Hamburg. Zur ausverkauften Langen Nacht junger Literatur und Musik kamen 800 zumeist junge Leute – hat da jemand Krise gesagt?

Reibung gehört zumindest rein körperlich eher nicht zu den Erscheinungen einer Literaturveranstaltung, denn die Literaturveranstaltung ist vom Grundding her immer das Gegenteil eines Popkonzerts. So gesehen ist die Ham.Lit, Hamburgs lange Nacht der Literatur, eine Ausnahme. Wiewohl so erstaunlich am Ende nicht, denn Pop-infiziert ist die Ham.Lit seit eh und je. Zu den Literatursounds, die – okay: relativ gesehen – im Stakkato über die Zuhörer kamen, gesellten sich die Auftritte von drei Musik-Acts. Aber im Mittelpunkt stand die Literatur.

In so dichter Taktung, dass es bei den Lesungen im Uebel & Gefährlich durchaus zu Stau-ähnlichen Situationen kam. Etwa, wenn sich beim übrigens sagenhaft unterhaltsamen Auftritt der Berlinerin Sonja Heiss („Rimini“) im sogenannten „Ballsaal“ des Bunkerclubs eine Prozession aus dem benachbarten „Turmzimmer“ an den Stehplätzen vorbeidrückte, Juliana Kálnay hatte ihre, wie man so hörte, ebenfalls kurzweilige Lesung soeben beendet. Bei 800 Ham.Lit-Besuchern kann nie jeder sitzen, es war so, wie Organisator Daniel Beskos gleich zu Beginn beim zufriedenen Durchmessen der Räumlichkeiten sagte, „schön voll hier“.

Hat da jemand Krise gesagt?

Ausverkauftes Haus, Literaturbetriebsauftrieb, Szenetreff, viele junge Leute – wo war eigentlich die Krise, die seit vergangenem Herbst der Branche zugeschrieben wird? Seit damals kursiert die eminente Zahl von sechs Millionen Menschen, die dem Literaturmarkt seit 2009 als Kunden verloren gegangen sind. Das glaubt man sofort, denn in jeder U-Bahn kommen auf einen Buchleser zehn Smartphone-Süchtige.

Auf der Ham.Lit spielte das Handydisplay praktisch keine Rolle. Gut, der Empfang ist im Uebel & Gefährlich auch notorisch schlecht; gehen wir trotzdem mal davon aus, dass die Literatur im Wort-Reiz-Gewitter jeden Gast hinreichend fesselte. Hamburgs lange Literaturnacht, das ist immer auch eine Leistungsschau der jungen deutschsprachigen Autorinnen und Autoren.

Literatur als Happening im Club funktioniert

Jung ist man übrigens auch noch mit knapp über 40, weshalb die bereits genannte Sonja Heiss und die Schleswig-Holsteinerin Mareike Krügel („Sieh mich an“) keineswegs aus der Reihe tanzten. Ihre Texte haben – Stichwort: Pointendichte – vorzügliche Lesebühnen-Eignung.

Die Newcomerin Josefine Riecks, Jahrgang 1988, hat dagegen eher ein Themenbuch geschrieben, da sind 25 Minuten nicht zwangläufig eine ausreichende Sneak Preview. Wie etliche andere der vorgestellten Titel ist auch ihr erstaunlicher Zukunftsroman „Serverland“ noch gar nicht erschienen. Sie beerdigt in ihrem Debüt unsere digitale Welt, bzw. ist diese schon längst beerdigt und wird jetzt wieder ausgebuddelt.

In „Serverland“ ist das Internet seit Jahrzehnten abgeschaltet, erlebt aber durch die Facebook-Euphorie einer Gruppe junger Leute ein Revival – sie sehnen sich nach der vernetzten Welt, die sie nie kennengelernt haben. Bei Rieks’ Lesung platzte das Turmzimmer aus allen Nähten. Was immer dies zu bedeuten hat.

Nach dem Musik-Interludium nahm die Empfangsbereitschaft des Publikums übrigens ab. Klar, im Club willst du auch labern, nicht nur zuhören. Man traf sie alle im Uebel & Gefährlich, Bestseller-Autoren und -Autorinnen, Leute aus der Kulturbehörde, aus dem Literaturhaus, aus den Verlagen. Am wichtigsten aber sind die Leser selbst, die gegen alle Netflix-Wahrscheinlichkeit für die Literatur noch vom Sofa hochkommen. Literatur als Happening funktioniert im Clubambiente sehr, sehr gut. Jetzt müssen die Leseleute nur noch die Bücher kaufen, dann geht’s aufwärts.