Hamburg. Der Auto Navid Kermani stellt sein neues Buch vor und diskutiert mit dem Außenminister. Protest gegen Waffenlieferung an Türkei.
„Lassen Sie mich doch mal bitte ausreden!“ Sigmar Gabriel, geschäftsführender Außenminister, hatte es nicht leicht, sich gegen ein paar lautstarke Demonstranten durchzusetzen, die im zweiten Rang des Thalia Theaters zwei Transparente entrollt hatten, auf denen sie „Solidarität mit Kurdistan“ forderten. Doch der SPD-Politiker ist nicht auf den Mund gefallen und verschaffte sich Gehör.
Den Vorwurf, er habe deutsche Panzer an die türkische Regierung verkauft, die damit auf syrischem Gebiet gegen kurdische Milizen kämpfen, entkräftete er mit dem Argument, vor zehn Jahren sei er nicht verantwortlich für den Waffen-Deal gewesen. Gabriel räumte ein, dass die damaligen Verträge „vielleicht nicht optimal ausgehandelt“ worden seien, und brachte das Thema des ganzen Abends souverän auf den Punkt. Es ging um unterschiedliche Blickpunkte auf die vielen Krisenherde der Welt.
„Holpriger Beginn“
Nach „holprigem Beginn“, so Diskussionsleiter Lothar Gorris („Der Spiegel“), konnten der Kulturjournalist, der Politiker und der Schriftsteller Navid Kermani in das Thema einsteigen. Die Protestierenden, deren Aktion von Kermani ausdrücklich begrüßt wurde, verließen nach einer Viertelstunde den Oberrang, und die Premiere von Kermanis aktuellem Buch verlief ohne weitere Störungen. „Entlang den Gräben. Eine Reise durch das östliche Europa bis nach Isfahan“ heißt die Reisereportage des in Köln lebenden Orientalisten. Schwerin war der Ausgangspunkt dieser Fahrten, die Kermani ins Baltikum, nach Polen, in die Ukraine, nach Weißrussland, Russland, Armenien und Aserbaidschan bis in den Iran geführt hatten.
Der dritte Tag seiner Reise brachte den Autor ins ehemalige Konzentrationslager Auschwitz. Sebastian Rudolph, Schauspieler aus dem Thalia-Ensemble, las aus Kermanis bizarren Beobachtungen dieses Ortes des Schreckens. Der Autor blickte regungslos auf den Tisch, es schien, als durchfühlte er noch einmal, was er bei seinem ersten Besuch in Polen erfahren und erlebt hatte: eine Beschreibung, wie die Nazi-Schergen den toten Juden in den Gaskammern die Goldzähne herausrissen, aber auch ein Gespräch mit jungen Israelis über die Scham, Deutscher zu sein und über die Frage nach der Verantwortung. „In Auschwitz ist auf Deutsch gemordet worden“, schreibt der iranisch-deutsche Schriftsteller.
Trennlinien und Gräben
Andere Kapitel, die Rudolph und Kermani lasen, schildern Erfahrungen, die er in Weißrussland, in Armenien und im Iran gemacht hat. Am Beispiel Weißrusslands verdeutlicht Kermani, dass die westliche Sicht von Europa mit seinen vorbildlichen Demokratien durchaus etwas Arrogantes habe. Nirgends haben Wehrmacht und SS so gewütet wie in Weißrussland. Das Land sei ein einziges Kriegsdenkmal. Vor diesem historischen Hintergrund müsse man die Skepsis der Weißrussen gegenüber der EU verstehen und auch ihre Orientierung am russischen System.
Sigmar Gabriel pflichtete ihm bei und kam auf die Trennlinien und Gräben zu sprechen, die sich in der EU zwischen Nord und Süd und zwischen West und Ost aufgetan hätten. „Es gibt auch kulturelle Gräben, die quer durch Deutschland verlaufen“, bemerkte Kermani und erzählte von seinem ersten Reisetag in Schwerin. Dort traf er deutsche Helfer und syrische Flüchtlinge in einem Lager. Später war er zu Gast bei einer Veranstaltung der AfD: „Da habe ich zwei Welten erlebt, die nichts miteinander zu tun haben und die nicht miteinander sprechen.“
Von arroganter Haltung lösen
Als Weg, diese Gräben zu überwinden, forderte der Schriftsteller: „Wir müssen miteinander reden, um diese Gräben zu überwinden. Wir müssen uns von unserer arroganten Haltung lösen, die sagt: ,Wir wissen, wie es geht‘, und wir müssen eine Grundregel beachten, die lautet: zuhören.“ Die Zuhörer im ausverkauften Thalia Theater bedachten nicht nur diesen Satz Kermanis mit viel Beifall.
Ums Zuhören geht es auch in einer Thalia-Reihe mit dem Titel „Herzzentrum“, die sich seit ein paar Spielzeiten ausschließlich mit Kermanis Texten beschäftigt. Aus aktuellem Anlass las der Schriftsteller am Folgetag beim zehnten „Herzzentrum“ zusammen mit 32 Mitgliedern aus Thalia und Schauspielhaus in einer Erstaufnahme-Einrichtung in Meiendorf. 600 Flüchtlinge hatten dort 2015 Zuflucht gefunden. Inzwischen steht die Einrichtung leer, wird aber komplett instand gehalten. Zwischen Matratzen in den Schlafsälen, im Essenssaal und im Spielzimmer lasen Schauspieler aus „Entlang den Gräben“ und anderen Texten Kermanis und berichteten von eigenen Fluchterfahrungen. Dieses „Herzzentrum“ schlug eine Brücke in andere Kulturen und eröffnete neue Perspektiven – zum Nachdenken und zum Diskutieren.