Hamburg. Philosophin und Autorin im Thalia Theater geehrt. Kulturpreis wird alle vier Jahre an Gelehrte und Dichter verliehen.

Was haben die „alternativen Fakten“ – gerade zum Unwortdes Jahres 2017 gekürt – mit Lessing zu tun? Eine ganze Menge, wenn man den Ausführungen von Juliane Rebentisch folgt. In ihrer Dankesrede für den Lessingpreis 2017 setzt sich die Professorin für Philosophie und Ästhetik an der Offenbacher Hochschule für Gestaltung mit Lessings unorthodoxem Verhältnis zur Wahrheit auseinander. Sie bezieht sich in ihrer klugen Rede auf Nietzsche und auf Hannah Arendt, die herausgefunden haben, dass es Lessing „mehr am Suchen der Wahrheit als an ihr selbst gelegen sei“. Der Dichter und Philosoph selbst war der Überzeugung, dass der vermeintliche Besitz der Wahrheit die Menschen „ruhig, träge und stolz“ mache, während die Suche nach der Wahrheit der Vervollkommnung des Menschen diene.

„Scharfsinnige Philosophin"

Die Philosophin aus Offenbach stellte Sonntagvormittag bei der Preisverleihung im Thalia Theater mit ihrer äußerst komplexen Rede unter Beweis, warum die Jury sie für den Lessingpreis vorgeschlagen hat, eine der traditionsreichsten Auszeichnungen der Hansestadt. Ihr Laudator Ekkehard Knörer, Herausgeber des „Merkur“, bezeichnete Rebentisch als „scharfsinnige Philosophin, präzise Deuterin moderner Kunst und unermüdliche Kämpferin gegen die Zumutungen des zeitgenössischen Kapitalismus“. Ihr Werk „Ästhetik der Installation“ gilt als bedeutender Beitrag für die Philosophie der Kunst.

Kultursenator
Carsten Brosda
überreichte Nino
Haratischwili im
Thalia Theater
am Sonntag den
Förderpreis des
Lessingpreises
Lothar Gorris
Kultursenator Carsten Brosda überreichte Nino Haratischwili im Thalia Theater am Sonntag den Förderpreis des Lessingpreises Lothar Gorris © Fabian Hammerl

Seit 1929, dem 200. Geburtstag von Gotthold Ephraim Lessing, wird der Kulturpreis alle vier Jahre an Gelehrte und Dichter verliehen. Er ist mit 10.000 Euro dotiert. In der Liste der Preisträger finden sich Koryphäen wie Hans Henny Jahnn, Walter Jens, Max Horkheimer, Jan Améry, Jan Philipp Reemtsma und Alexander Kluge, aber nur zwei Frauen. Hannah Arendt, jüdische Soziologin und Politologin, erhielt die Auszeichnung 1959, 1981 wurde die ungarische Philosophin Ágnes Heller mit dem Preis bedacht.

In diesem Jahr wurden gleich zwei Frauen geehrt, denn außer Rebentisch erhielt die deutsch-georgische Schriftstellerin Nino Haratischwili den mit 5000 Euro dotierten Förderpreis. Für Haratischwili war die Preisübergabe ein Heimspiel, denn sie lebt und arbeitet seit 2003 in Hamburg. Die Dramatisierung ihres Romans „Das achte Leben (Für Brilka)“ läuft seit der vergangenen Spielzeit im Repertoire des Thalia.

Düstere Electropop-Balladen

Die Schauspielerinnen Franziska Hartmann und Lisa Hagmeister zeigten daraus eine kurze und lustige Szene als deutlichen Kontrast zu der Darbietung, die sich Juliane Rebentisch gewünscht hatte. Für sie sangen die international erfolgreichen Konzeptkünstlerinnen Eliza Douglas und Anne Imhof ein paar düstere Electropop-Balladen. Hartmann und Hagmeister dagegen ließen Hula-Hoop-Reifen kreisen und räsonierten darüber, was denn Sowjetunion für junge georgische Mädchen bedeutet.

Die Laudatio für Nino Haratischwili hielt Julia Lochte, Chef-Dramaturgin am Thalia. Sie lobte die preisgekrönte Theaterautorin für ihre eigenwillige, sprachmächtige Kunst: „Sie hat etwas zu erzählen und erschließt geografisch neue Welten. Ihr Roman ,Das achte Leben‘ hilft, die Sowjetzeit zu verstehen.“

Lesung aus „Die Katze und der General“

Haratischwili, 1983 in Tiflis geboren und 1995 als Zwölfjährige nach Deutschland gekommen, hat ihre 19 Theaterstücke und drei Romane nicht in ihrer Muttersprache, sondern auf Deutsch geschrieben. Welch brillante Erzählerin sie ist, zeigte sie zum Schluss der Matinee. Sie las aus dem im Herbst erscheinenden Roman „Die Katze und der General“.

„Das achte Leben“ beschreibt die Geschichte der Sowjetunion in sechs Generationen, ihr neues Werk lässt sie in Tschetschenien spielen. Schon der kurze Ausschnitt über den Ausbruch des Krieges in der Kaukasus-Republik macht Lust auf das ganze Werk. Wie kaum eine zweite Erzählerin versteht Haratischwili es, Geschichte lebendig werden zu lassen, weil sie ein außerordentliches Gespür für Figuren hat. Jette Steckels Inszenierung von „Das achte Leben“ zeigt das ebenfalls eindrucksvoll.