Hamburg. Serie „Hamburgs Klassiker – neu entdeckt“. Heute: Bei einer Stadtrundfahrt gibt es zu jeder Sehenswürdigkeit einen Schenkelklopfer.
Manche Dinge ändern sich nie. Schon bei den Klassenfahrten waren die Plätze oben ganz vorn im Doppeldecker am beliebtesten. Und auch bei Stadtrundfahrten sind sie immer als Erstes belegt. Kein Hinterkopf des Vordermannes stört, die Aussicht ist einfach perfekt. Und, wenn man einigermaßen gelenkig ist, kann man sich so hinfläzen, dass man die Füße hochstellen kann. Alles fast wie früher.
Noch bevor es losgeht, steckt ein Mann im grünen Lodenmantel seinen Kopf zur Bustür herein. Ob wohl ein Hut gefunden worden sei, möchte er wissen, den vermisse er seit dem Vortag, genau seit seiner Stadtrundfahrt. Davon geflogen sein kann das gute Stück nicht, denn das Verdeck bleibt im Winter geschlossen. Busfahrer Emini Ramada rät dem Mann, im Büro nachzufragen und reicht ihm den Prospekt mit der Telefonnummer.
Im Winter gibt es täglich mindestens 16 Fahrten
Emini Ramada hat den signalroten Doppeldecker-Bus aus dem Depot geholt. Seit 9.30 Uhr steht der 41-Jährige, der seit fast 18 Jahren Busfahrer ist, an der Haltestelle an den Landungsbrücken und wartet mit Gästeführer Halim Thamri auf Kundschaft. Erste Abfahrt der Linie A, einer laut Geschäftsführerin Katharina Fest seit Jahren erprobten und beliebten Tour, ist um 10 Uhr. Im Winter gibt es täglich mindestens 16 Fahrten, im Sommer maximal 50.
An diesem Morgen lässt sich das Geschäft nur mühsam an. Platz wäre für 73 Gäste, die Konkurrenz durch die anderen Anbieter ist an diesem Morgen aber fast größer als die Kundschaft. „Ja, es gibt mehrere Mitbewerber“, sagt Thamri, „aber uns gibt es schon seit 1979 und wir fahren immer nach Fahrplan und sind pünktlich.“ Außerdem hat Ramada die Poleposition – er steht ganz vorn.
Dazu noch ein Gästeführer im Bus? Aus anderen Großstädten kennt man Audiosysteme, aber hier muss sich niemand einen Kopfhörer ins Ohr ploppen: „In Hamburg hat sich das noch nicht durchgesetzt“, sagt Thamri. „Die Gäste hören gern den Hamburger Schnack, außerdem kann ein Audiosystem nicht auf Umleitungen und Unvorhergesehenes reagieren.“ Nur wer weder Deutsch oder Englisch spricht, bekommt das Hilfsmittel zur Verfügung gestellt.
Thamri bringt den Touristennicht nur die Sehenswürdigkeiten näher, er sei auch Aufsichtsperson, sagt der 37-Jährige. Denn sobald 14 bis 15 Grad erreicht sind, fährt der Bus oben ohne. Und gerade, wenn das Verdeck offen sei, neigten einige Fahrgäste zu Leichtsinn. „Hamburg ist eine sehr grüne Stadt, da hängen die Äste schon mal etwas tiefer. Und wenn es vorher geregnet hat, noch etwas mehr.“ In solchen Situationen warnt er die Gäste. Manchmal müsse er auch diejenigen mit den großen Spiegelreflexkameras zurückpfeifen, die sich zu wagemutig nach draußen lehnten. Tatsächlich sind manche Lastwagen auf der Nebenspur oder beim Abbiegen gefühlt nur eine Handbreit entfernt.
Gelächter im Bus
Die Tour startet pünktlich – mit einer Handvoll Gästen. Am Baumwall, wo die Hochwasserschutzbebauung flacher wird, fällt der Blick auf die Elbphilharmonie. Gästeführer Thamri erzählt von der Kostenexplosion bei dem Konzerthaus, aber auch davon, wie unermesslich dessen Beliebtheit seit der Eröffnung vor genau einem Jahr gestiegen sei. Und er spricht von den Quadratmeterpreisen der Luxuswohnungen: „Für das Kleingeld kriegt man hier schon was geboten.“ Ungläubiges Raunen im Bus.
Weiter geht es durch Speicherstadt, seit 2015 Weltkulturerbe, und HafenCity. „In der Speicherstadt darf niemand wohnen“, sagt Thamri, ein Hotel habe trotzdem eine Betriebserlaubnis erhalten, „aber da wohnen ja keine Hamburger.“ Die Fahrgäste, von denen nach und nach mehr zusteigen, werden warm, es gibt Gelächter im Bus.
Der Marco-Polo-Tower werde auch „,Dönerspieß‘ genannt“, sagt der Gästeführer, einer der Klitschko-Brüder besitze dort eine Wohnung. „Auch Helene Fischer hat in der HafenCity eine Wohnung. Man weiß aber nicht wo, da gehen die Ausssagen auseinander. Es gibt noch ein zweites Hochhaus, den Cinnamon Tower (Cinnamon = Zimt). Also wohnt der eine vielleicht im Dönerspieß, die andere in der Zimtstange.“ Am Internationalen Maritimen Museum kommt der Tourbus zwar nicht direkt vorbei, Thamri legt es den Touristen trotzdem wärmstens ans Herz: „Da drin können Sie locker ein paar Jahre verbringen“, wirbt er. Nebenwirkung einer Stadtrundfahrt: Man kriegt sehr viele Anregungen, wo man endlich mal wieder hingehen sollte.
Auch das runde Parkhaus neben Saturn ist Thamri eine Erwähnung wert, schließlich war es im James-Bond-Film „Der Morgen stirbt nie“ ebenso Drehort wie die benachbarte Mönckebergstraße. „Da finden Sie viele Geschäfte, die Sie auch von zu Hause kennen“, scherzt der Gästeführer. Der Bus zuckelt, nachdem er Hauptbahnhof und Kunsthalle hinter sich gelassen hat, weiter durch St. Georg. „Dieser Stadtteil verfügt auch über ein Rotlichtmilieu, so wie St. Pauli“, sagt Thamri, der seinen Job seit vier Jahren macht und davor bei der Internationalen Gartenschau als Gästeführer tätig war. „Übrigens die einzigen beiden Stadtteile mit einem Heiligentitel im Namen“, sinniert er.
Alkohol ist an Bord verboten, Döner auch
Und während der Bus das Hotel Atlantic passiert, erzählt Thamri, das Udo Lindenberg dort seit vielen Jahren logiere und man ihn manchmal sonntags dort treffen könne. Ein Ehepaar steigt am Hoteleingang zu. „Wir haben ihn gestern gerade gesehen“, rufen sie begeistert in die Runde.
Die Route führt weiter durch Rotherbaum und Harvestehude. Am Harvestehuder Weg zeigt Thamri nacheinander auf mehrere prunkvolle Villen, die einst Michael Stich, Jil Sander und Wolfgang Joop gehörten. „Klatsch und Tratsch, das interessiert die Leute am meisten“, sagt der Gästeführer, auch mit den Hamburger Immobilienpreisen versetzt er die Gäste mehrfach in Erstaunen. Und manchmal mit ungewohnten Einblicken: An der Moorweide liegt im Hochparterre eine Zahnarztpraxis. Vom Bus hat man einen ungehinderten Blick auf den Behandlungsstuhl. „Zum Glück ist da kein Gynäkologe eingezogen“, habe mal ein Busgast gesagt.
Bordservice wäre jetzt schön, gibt es aber nicht. Könnte Kollege Thamri ja mitmachen, flachst Busfahrer Ramada. Alkohol ist im Bus verboten, allerdings habe niemand etwas dagegen, wenn Rundfahrtsteilnehmer ihre Wasserflasche auspacken und eine Kleinigkeit zu naschen, sagt der Tour-Guide. „Aber bitte kein Fischbrötchen, Döner oder Knoblauchwurst, die andere Fahrgäste stören.“
Wer setzt sich überhaupt in einen Bus, um einmal durch die eigene Stadt zu kurven? Kennt man doch alles, hat man alles schon zigmal gesehen! „Natürlich sind die meisten Kunden Touristen, aber die Hamburger steigen gern mit ein, wenn sie selbst Gäste haben“, sagt Thamri. Christa und Ralf Albrecht aus dem Schwarzwald sind zwar zum Verwandtenbesuch in der Stadt, aber ohne Familienanhang auf Tour. „Wir verschaffen uns mit dieser Stadtrundfahrt einen Überblick und vertiefen das dann in den kommenden Tagen“, sagt Ralf Albrecht.
Die Reeperbahn will jeder sehen
Mit Blick auf das Hofbräuhaus an der Esplanade erzählt Thamri eine weitere Anekdote: „Viele Gäste aus Übersee sind völlig entsetzt, wenn sie feststellen, dass es in Hamburg keine Bierzelte gibt. Sie denken, dass St. Pauli und Oktoberfest zusammengehören.“ Er selbst habe in den USA mal ein Bier namens St. Pauli Girl getrunken, auf dem das Girl ein Dirndl trug. „Das macht die Verwirrung verständlicher.“
Vorbei an den Messehallen, dem Fernsehturm und den Gerichten und „dem eigentlichen Wahrzeichen der Stadt, dem Michel“, so der Gästeführer, fährt der Bus weiter nach St. Pauli. Ein kurzer Einschub muss aber sein, auch wenn die Fahrgäste den Old Commercial Room nicht direkt sehen. Thamri preist das Labskaus des Traditionsrestaurants an: „Es sieht aus, wie das unglückliche Ende einer Weinprobe, schmeckt aber hervorragend. Und wer alles aufisst, bekommt dort sogar eine Urkunde.“
Jeder kennt St. Pauli
St. Pauli ist für Touristen ein Muss. Jeder kennt den Namen, jeder muss mal da hin. Vom Bus aus kann man antiseptisch Abstand halten und bekommt doch einen Eindruck, auch wenn der kurz vor Mittag verfälscht ist. Der Blick in die Herbertstraße ist vom Oberdeck aus zwar ungehindert, doch viel sieht man nicht, um diese Tageszeit ist noch nichts los. Total tote Hose. „Herrscht noch kein Verkehr“, so der Kommentar von Thamri, „die eigentlichen Stoßzeiten fangen später an.“ Gelächter im Bus. Ein bisschen schlüpfrig zieht immer. „Links Rotlicht, rechts Blaulicht“, sagt er in Höhe Davidwache. „Da laufen die Gäste gern mal rein, um Hallo zu sagen, aber da sitzen dann eben nicht die Leute vom ,Großstadtrevier‘ oder vom ,Notruf Hafenkante‘.“
Genau nach 90 Minuten hält Emini Ramada mit dem Bus wieder an den Landungsbrücken. Der Mann im Lodenmantel ist auch wieder da, um gut gelaunt Bescheid zu sagen: „Eine Reinigungskraft hat den Hut gefunden.“
Erste Reihe ist nicht der beste Platz
Ramada und Thamri sind nur gelegentlich zusammen unterwegs, denn die Teams wechseln ständig. Laut Geschäftsführung hat das Unternehmen 45 Mitarbeiter und 40 freie Gästeführer. Ramada ist früher mal für die Hochbahn gefahren, doch die Stadtrundfahrten lägen ihm mehr, sagt er. Und auch Halim Thamri macht seinen Job gern, denn die Fahrgäste seien eigentlich immer gut drauf. Nur selten müsse er mal eingreifen, „zum Beispiel, wenn jemand sehr lautstark telefoniert“. Ist es nicht furchtbar anstrengend, den ganzen Tag reden zu müssen? „Das ist Übungssache“, sagt Thamri, „die Stimme gewöhnt sich daran.“
Zum Schluss verrät der Insider noch ein Geheimnis: Die erste Reihe oben im Bus sei mitnichten der beste Platz. „Im Sommer hängt das Verdeck über den ersten drei Reihen. Darunter steht die Luft.“ Aber das ist irgendwie auch egal. Diesen unverstellten Blick und das Klassenreisengefühl hat man nun mal nur auf diesen Plätzen.