Hamburg. „Hamburgs Klassiker, neu entdeckt“ zeigt, wie spannend die altbekannten Attraktionen sind. Heute: ein Besuch bei Aale-Dieter.

Der kleine Elektroofen glüht vergebens gegen den eisigen Wind, der an der Kaimauer durch jede Pore dringt. Schweigend stapelt Dieter Bruhn (78) die vakuumverschweißten Aale auf die Theke seines Verkaufswagens. Peter Wiechert, seit über 40 Jahren Bruhns Freund und Helfer, zieht mit klammen Fingern an seiner Zigarette und brummt: „Ich will nach Hause.“ Der Fischmarkt ist an diesem Sonntagmorgen um 6 Uhr von der in Reiseführern so gepriesenen Hafenromantik weiter entfernt als der HSV von der deutschen Meisterschaft. Statt Kunden torkeln ein paar angeschickerte Partygänger über den Asphalt, sie haben die Nacht auf dem Kiez durchgemacht. Dieter Bruhn, Künstlername Aale-Dieter, bleibt entspannt: „Wird schon, nur Geduld.“

90 Minuten später zeigt sich: Fast 60 Jahre Fischmarkt-Erfahrung können nicht irren. Eine dichte Menschentraube umlagert den Stand. Bruhn, Jeans, blau gestreiftes Fischerhemd, rote Hosenträger, reicht Aal-Stückchen zum Probieren. „Der beste Aal, den es gibt, geräuchert in Altonaer Öfen“, ruft er. Als eine schlanke Frau einen Blick riskiert, ruft Bruhn: „Gerade du solltest mal Aal essen, bist ja so dünn wie ’nen Pfeifenreiniger.“ Zögern? Keine Chance. Bruhn beugt sich über den Tresen, streckt die bratpfannengroße Hand aus, zieht den Kunden an die Auslage und raunzt: „Nun komm endlich her.“

Mischung aus Handel und Party

Als Bruhn 1959 seine ersten Aale verkaufte, regierte Konrad Adenauer das Land. Älter als Aale-Dieter ist eigentlich nur noch der Fischmarkt selbst. 1703 durfte erstmals vor den Toren des alten Hamburgs Fisch verkauft werden, damit die Bewohner sich vor dem Kirchgang mit frischer Ware eindecken konnten. Mehr als 300 Jahre später lockt die Kombination aus Handel und Party – in der benachbarten Fischauktionshalle rocken oder jazzen bis mittags Bands – bis zu 70.000 Besucher.

Dirk Radack
verkauft am
Stand von
Bananen-Fred
körbeweise Obst –
nie für mehr als
zehn Euro
Dirk Radack verkauft am Stand von Bananen-Fred körbeweise Obst – nie für mehr als zehn Euro © HA | Roland Magunia

Manche kommen allein seinetwegen. Dieter Bruhn, aufgewachsen im Stadtteil Hamm. Jahrgang 1939, Kriegskind. Die Bunkernächte und Hungerjahre haben ihn geprägt: „Da hatte keiner was. Aber jeder hat jedem geholfen. Heute ist mir zu viel Ellbogen in der Gesellschaft.“ Ende der 1950er-Jahre suchte Bruhn einen Nebenjob, um sein Gehalt als Maschinenschlosser aufzubessern. Er heuerte bei Aale-Wilhelm auf dem Fischmarkt an. Als der Chef krank wurde, übernahm er den Laden gleich selbst. Seitdem, sagt er, habe er in fast 60 Jahren vielleicht dreimal wegen Krankheit gefehlt. Wer ihn dennoch vermisst, muss wissen: Aale-Dieter ist auch als Botschafter für Hamburg unterwegs, etwa in Stuttgart beim „Fischmarkt on tour“.

In Top Ten der deutschen Verkäufer

Auch im Schwabenland lieben sie seine Sprüche wie: „Dreh dich nicht um, dir schaut sowieso keiner hinterher.“ Wer ihn länger beobachtet, begreift, warum ihn das „Manager Magazin“ in die Top Ten der deutschen Verkäufer aufnahm und wieso ihn regelmäßig Versicherungen für Schulungen buchen. Bruhn balanciert sicher auf dem schmalen Grat zwischen öligem Kiez-Koberer-Charme und bemühtem Vertreter-Gehabe. Dieter bleibt Dieter, Hauptdarsteller eines Einmanntheaters an der Kaimauer.

Der Kerl, ein echter Schrank, bewegt sich grazil wie ein Balletttänzer. Hinter ihm klebt noch ein Schwarz-Weiß-Foto von einem Flickflack-Überschlag in seinem Wagen: „Damals habe ich Stahlplatten unter die Decke geschraubt, damit ich das Dach nicht durchtrete. Die Leute haben gejohlt.“ Solche Kunststücke traut er sich mit fast 80 Jahren nicht mehr, auch das Trabrennfahren hat er drangegeben. „Zu riskant für meine alten Knochen.“

Für Händler wird das Geschäft immer härter

Dann spannt er seinen Hosenträger, seine sonore Stimme, in Jugendjahren geschult als Tenor, senkt sich. „Ich bin ja auch ein Wohltäter, heute gibt’s zum Aal noch einen richtig guten Räucherlachs dazu. Alles zusammen nur 30 Euro.“ Wer dann allerdings noch handeln will, bekommt einen Spruch reingedrückt: „Ich bin hier nicht das Sozialamt.“ Richtig grantig wird er nur, wenn jemand mit Waren der Konkurrenz vorbeihastet. „Deine Aale sind zu Fuß aus Russland gekommen, da musst du noch Butter draufstreichen, damit sie überhaupt Geschmack haben“, höhnt Bruhn über Kunden, die auf Dumpingpreise setzen.

Käse Tommi war
früher Wurst
Tommi – bis die
Kunden wegen des
Rinderwahnsinns
wegblieben. Da hat
er sich neu erfunden
Käse Tommi war früher Wurst Tommi – bis die Kunden wegen des Rinderwahnsinns wegblieben. Da hat er sich neu erfunden © HA | Roland Magunia

Masse trifft Klasse, das ist so etwas wie der Urgedanke des Fischmarkts. Ein paar Schritte Richtung Landungsbrücken bölkt Thomas Rehberg: „Wer jetzt noch überlegt, der soll klauen.“ Sieben französische Käsesorten presst Käse Tommi in jedes Bastkörbchen, rund 1300 Gramm für zehn Euro. Ein Kampfpreis, bei dem auch die meisten Discounter passen müssten – Rehbergs Kalkulation kann nur mit den entsprechenden Mengenrabatten seiner französischen Lieferanten aufgehen. Entsprechend viel muss er jeden Sonntag verkaufen.

„Alles für einen Zehner“

Das Geschäft werde immer härter, sagt Rehberg. Die psychologisch wichtige Zehneuro-Schallmauer darf er nicht durchbrechen, der Slogan „Alles für einen Zehner“ ist gelernt auf dem Fischmarkt, auch die Obst- und Gemüsehändler kämpfen nach dem gleichen Prinzip um ihre Kunden. Doch die Lebensmittelpreise steigen überall, entsprechend scharf muss Rehberg seinen Siebensortenverkauf kalkulieren.

Aber nach 35 Jahren Fischmarkt – schon als Zwölfjähriger packte er beim Obststand seiner Eltern mit an – bringt ihn so schnell nichts aus der Fassung. Erst recht nach seiner Fast-Pleite 2000. Damals verkaufte Rehberg noch Wurst auf dem Fischmarkt – bis der Rinderwahn-Skandal Deutschland erschütterte. „Da bin ich von einem Tag auf den anderen fast nichts mehr losgeworden.“ So wurde Wurst Tommi zu Käse Tommi.

Auch Dieter Egert hat sich den branchenüblichen Spitznamen zugelegt, als Verkäufer von Gemüseschneidern firmiert er als Schnipsel-Dieter. Zwar passt Egert mit seiner ruhigen, zurückhaltenden Art so gar nicht ins Klischee des Marktschreiers. Doch wer ihm zusieht, wie er binnen Sekunden mit dem Spiralschneiderset „Herzschäler“ Porree und Zwiebeln in Mengen häckselt, als müsse er gleich eine ganz Kantine versorgen, spürt: Hier liebt einer sein Produkt. „Alles beste Qualität, seit Jahrzehnten erprobt“, sagt „Schnipsel-Dieter“ stolz.

Auch im Winter
strömen Tausende
an die Große
Elbstraße, auf
der Suche nach
Unterhaltung und
manchem
Schnäppchen
Auch im Winter strömen Tausende an die Große Elbstraße, auf der Suche nach Unterhaltung und manchem Schnäppchen © HA | Roland Magunia

Sein Sohn verkauft ein paar Meter weiter ein ähnliches System. Doch als an diesem Sonntag um Schlag 9.30 Uhr „Der Verkauf ist sofort einzustellen“ aus den Lautsprechern schnarrt, packen beide das Gros ihrer Ware wieder ein. „So ein Wetter macht es uns schwer“, sagt Egert. Wer mag schon beim Gemüseschnippeln zusehen, wenn der Wind derart pfeift.

Bei Aale-Dieter und Käse Tommi zeugen dagegen die leeren Kartons von einem erfolgreichen Morgen. Dieter Bruhn würde nie verraten, wie viele Aale er verkauft hat. Das erzeuge nur Neid, sagt er. Viel lieber redet er über seinen gesunden Teint („aalglatt, sage ich immer“), seine Fitness („ich brauche nur drei Stunden Schlaf“), sein Engagement für Hilfsorganisationen („Ich hatte so viel Glück im Leben, ich musste etwas zurückgeben“) und seine CD mit dem Titel „Wovon kann ein Mensch schon träumen“.

Viele scheuen Risiko der Selbstständigkeit

Bruhn sagt, er könne auf ein wunderbares Leben zurückblicken. Mit seiner Frau und den beiden Töchtern. Mit TV-Einsätzen in der „Aktuellen Schaubude“ oder wie jüngst für die neue TV-Serie „Soko Hamburg“. Mit Promis wie Heidi Kabel oder Jan Fedder. Nur manche Kollegen, mit denen vor knapp sechs Jahrzehnten alles begann, vermisst er. Legenden wie Fred Radack (Bananen-Fred), den sie 2013 im Alter von 82 Jahren begraben haben. „Wir Originale sterben aus“, sagt Bruhn.

Immerhin blieb das Geschäft bei Bananen-Fred in der Familie, Freds Sohn Dirk Radack stopft nun Orangen, Mangos und Birnen in die Körbe („für keine 20, keine 15, auch nicht für 13, nein, für nur 10 Euro“). Doch die nahtlose Übergabe ist längst mehr Ausnahme denn Regel. „Wir haben den schönsten Beruf der Welt, aber immer weniger wollen ihn machen“, klagt Wilfried Thal, Vorsitzender des Hamburger Verbands des ambulanten Gewerbes und der Schausteller. Viele scheuten das Risiko der Selbstständigkeit, von den langen Arbeitszeiten bei Wind und Wetter ganz zu schweigen. Er fordert, dass die Stadt mehr für ihre Wochenmärkte werben müsse, erst recht für den Fischmarkt: „Das ist ein Stück Hamburger Kulturgut.“

Nachfolger ist nicht in Sicht

Wenn Dieter Bruhn eines Sonntags nicht mehr um zwei Uhr morgens sein Kühlhaus in Eppendorf ansteuern mag, wird sein Wagen mit dem Kennzeichen HH-AD für Aale-Dieter wohl ganz vom Fischmarkt verschwinden. Ein Nachfolger ist nicht in Sicht. Der Schwiegersohn hat es mal versucht, aber nach einem Tag wieder aufgegeben. Doch noch verschwendet Dieter Bruhn keinen Gedanken an ein Ende seiner Karriere. „Wenn ich gesund bleibe, mache ich das auch noch mit 100 Jahren.“