Hamburg. Noch zu Lebzeiten vererbte der Altkanzler seine 2500 Schallplatten der Hochschule für Musik und Theater. Was wurde daraus?
Auch am Schluss, als Loki längst gegangen war und er die Töne gar nicht mehr hören konnte, setzte Helmut Schmidt sich so gerne an den Flügel im Erdgeschoss seines Hauses in Langenhorn und spielte Klavier. Er war dann ganz alleine mit sich und seinen Gedanken. Vielleicht fühlte er die Melodie.
Dass der vor gut zwei Jahren verstorbene Staatsmann zeitlebens eine tiefe Bindung zur Musik hatte, ist kein Geheimnis. Neu ist die Information, dass Hannelore und Helmut Schmidt ihr musikalisches Vermächtnis bereits weit vor beider Ende geklärt hatten. Gut 2500 Schallplatten wurden rechtzeitig in gute Hände gegeben.
Erbe der Schmidts im Archiv
In die besten: Die Hochschule für Musik und Theater am Harvestehuder Weg hat dieses Erbe der Schmidts im Archiv gelagert und katalogisiert. So bleiben nicht nur die Tonträger erhalten, sondern auch Erinnerungen an den in diesem Fall klassischen Geschmack des legendären Ehepaars. Jazz und Swing waren die Ausnahmen im riesigen Repertoire.
„Die Übergabe der Plattensammlung war eine Geschichte für sich“, sagt Hochschulpräsident Elmar Lampson bei einem Kaffee zum Jahresausklang 2017. Sein mit gediegenen Bücherregalen, Ölgemälden und einem uralten Piano ausgestattetes Arbeitszimmer gewährt einen überragenden Blick auf die Außenalster. Es ist der passende Ort, ein bisher unbekanntes Detail aus dem Leben Helmut Schmidts zu erfahren. Es erzählt eine Menge über die ureigene Art eines Ehepaars, das seinen individuellen Geist wahrte und trotz politischer Höhenflüge auf dem Boden blieb.
Es war der Sommer 2007. Helmut Schmidt hatte über seinen Freund Manfred Lahnstein Kontakt zu Professor Lampson aufgenommen. Sein Vorschlag: Übergabe der kompletten Plattensammlung. „Sie können gerne ihre Familie mitbringen“, riet der Altkanzler. Zweimal sagte Elmar Lampson nicht nein. Ein paar beim Verladen anpackende Hände mehr, dachte er sich, könnten nicht schaden. Doch es kam ganz anders.
Der Komponist fuhr mit Ehefrau Alexandra und drei der fünf Kinder in den Neubergerweg nach Langenhorn. Finn, Felicia und Ingmar, damals sieben, 17 und 21 Jahre alt, waren mitgekommen. Den Nissan parkten die Lampsons vor der Hausnummer 80, passierten die Polizeikontrolle und drückten links am Doppelhaus auf die Klingel mit dem Namensschild „Schmidt“. Loki öffnete, hieß die Besucher willkommen, herzlich und fröhlich, bat die Gäste in die Stube, wie sie immer zu sagen pflegte. Der Tisch im Esszimmer war gedeckt. Es gab selbst gebackenen Obstkuchen, Kaffee und Saft.
Unmittelbare Natürlichkeit
„Da saßen wir dann, machten große Augen und unterhielten uns über Gott und die Welt“, erinnert sich Elmar Lampson an einen unvergessenen Vormittag. „Frau Schmidt behandelte uns wie Freunde“, sagt der Hochschulprofessor. „Sie beeindruckte uns mit ihrer unmittelbaren Natürlichkeit und ihrem Interesse an anderen Menschen.“
So fragte sie die drei Kinder nach der Schule und ihrer Berufsplanung. Etwas später kam Helmut Schmidt die Treppe vom Arbeitszimmer hinunter und setzte sich dazu. Der Klönschnack ging weiter. Loki und Helmut Schmidt erzählten vom Urwald-Grundstück am Brahmsee und von Besuchen diverser Staatsmänner daheim in Langenhorn. Beide zeigten und erläuterten ihre Gemälde im Doppelhaus. Dass die Gastgeber ungeniert pafften, eine nach der anderen, braucht nicht weiter erwähnt zu werden.
Zu jeder Schallplatte eine Geschichte
Nach etwa eineinhalb Stunden, so behielt es Elmar Lampson im Gedächtnis, widmeten sich die sieben Personen der Plattensammlung im Nebenraum. „Seine Tiefe, die Präzision und sein Erinnerungsvermögen verblüfften“, sagt Lampson. „Herr Schmidt hatte praktisch zu jeder Schallplatte eine Geschichte parat.“ Es dauerte also. Viele LP-Hüllen waren mit handgeschriebenen Grüßen der Schenkenden versehen, andere mit Widmungen der Künstler. Nach und nach wurde die Sammlung ins Auto gepackt. Bis Helmut Schmidt mit Blick auf die leicht krumm stehenden Reifen meinte, dass der Wagen überladen sei. „Tatsächlich hatte er quasi X-Beine“, erinnert sich Lampson.
Folglich einigte man sich auf einen weiteren Besuch am Tag darauf. „Insgesamt waren wir zwei komplette Tage bei den Schmidts“, sagt Lampson. „Nicht nur die Kinder waren erstaunt.“
Ein Klassiker neben dem anderen
Zurück in die Gegenwart. Lampson schenkt Kaffee nach, auch für seinen Kollegen Frank Böhme, Professor für angewandte Musik. Dieser hat den Schlüssel zum Archiv. Der Weg führt ins Souterrain der Villa. Da lagern sie also in Stahlregalen, die musikalischen Schätze der Schmidts. Ein Klassiker ruht neben dem anderen: Bach, Beethoven, Mozart und viele andere. „Sondersammlung Helmut Schmidt“, steht auf einem Schild.
Am 23. Dezember 2018 wäre Hamburgs Ehrenbürger 100 Jahre alt geworden. Zu seinen Ehren soll es im Februar in der Hochschule einen besonderen Abend geben. Aufgeführt wird ein Mozart-Konzert für drei Klaviere und Orchester, F-Dur, Köchelverzeichnis 242. Während seiner Kanzlerzeit zwischen 1974 und 1982 hatte Schmidt – durchaus sendungsbewusst – an Plattenaufnahmen mitgewirkt. Motto: „Kanzler und Pianist“. Neben Justus Franz und Christoph Eschenbach war das London Philharmonic Orchestra beteiligt. Nach der Aufnahme einer CD 1982 zollte der Dirigent Eschenbach dem Hamburger im Deutschlandfunk Lob: „Helmut Schmidt bewältigte Mozarts Sechzehntel gekonnt. Er hat den Rhythmus verstanden und die Harmonie des Ganzen erfasst.“
Und eben diese Harmonie erfasste der Hanseat auch noch, als er gegen Ende seines fast 97-jährigen Lebens nichts mehr hören konnte. Aber er spürte sie, seine Musik.