Hamburg. Es war allein wegen der G-20-Ausschreitungen kein gutes Jahr für die Stadt. Olaf Scholz’ Image hat schwere Kratzer bekommen.
Es war dieser eine Satz, wenigstens dieser, der kommen musste und der ihm so schwerfiel. „Dafür, dass das geschehen ist, bitte ich die Hamburgerinnen und Hamburger um Entschuldigung“, sagte der Erste Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) in seiner Regierungserklärung am 12. Juli vor der Bürgerschaft – wenige Tage nach den bestürzenden und für die meisten Menschen kaum vorstellbaren Gewaltausbrüchen, die sich vor und während des G-20-Gipfels der wichtigsten Staats- und Regierungschefs in der Stadt ereignet hatten.
Mit Engelszungen hatten Scholz’ Berater und nicht zuletzt auch die Wohlmeinenden des grünen Koalitionspartners auf ihn eingeredet, diese eine Geste der Demut, ja der Einsicht und der direkten Ansprache der Hamburger in seine Rede einzubauen. Durch die zahlreichen Entwürfe hindurch fehlte der Passus. Erst die letzte Version enthielt den Satz, den Scholz dann mit leiser, beinahe belegter Stimme vortrug.
Politisches Überleben an einem seidenen Faden
Wer hätte sich vorher ausmalen können, dass dieser souverän agierende, bisweilen vor Selbstbewusstsein geradezu strotzende Politiker je so in Bedrängnis geraten könnte? Scholz’ politisches Überleben hing in diesen Julitagen tatsächlich an einem seidenen Faden. Zu dramatisch war das Geschehen auf den Straßen der Stadt gewesen, zu tief saß der Schock über das Ausmaß der Gewalt, die Plünderungen im Schanzenviertel oder die Schneise der Verwüstung durch einen marodierenden Mob in Altona und Eimsbüttel.
Teile der Stadt waren über Stunden außer Kontrolle der Polizei geraten – auch mehr als 30.000 Beamte, die im Einsatz waren, hatten das nicht verhindern können. Scholz hatte diesen Gipfel von Beginn an gewollt, der Bitte von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) nach Ausrichtung gern entsprochen und fast im Alleingang in Hamburg auch gegen massive Bedenken durchgesetzt. Nun war klar, dass er auch die Verantwortung für das Misslingen tragen musste. Im Abendblatt-Interview kurze Zeit später bekannte Scholz, dass er sich die Frage nach seinem Rücktritt sofort gestellt, aber mit Nein beantwortet habe.
Rückendeckung einer Christdemokratin
Vor dem Sonderausschuss der Bürgerschaft, der sich um die Aufklärung der Ereignisse bemüht, sagte Scholz, dass er sein Amt aufgegeben hätte, wenn es einen Toten gegeben hätte. Gleichwohl: Politisch gerettet hat den Sozialdemokraten letztlich die uneingeschränkte Rückendeckung einer Christdemokratin – der Kanzlerin Angela Merkel, die damit auch die Rücktrittsforderung ihres Parteifreundes, des CDU-Fraktionschefs André Trepoll, mit einem Schlag vom Tisch wischte.
Scholz konnte im Nachhinein fast keine Fehler in Bezug auf den G-20-Gipfel bei sich entdecken. Vor dem Sonderausschuss beharrte der Bürgermeister darauf, dass die Vorbereitung und die Zusammenarbeit aller Stellen „exzellent“ gelaufen sei und niemand diese Form der Ausschreitungen und deren Ausmaß vorhergesehen habe. Fast schon stur blieb Scholz auch dabei, dass es nach wie vor richtig sei, dass ein Treffen wie der G-20-Gipfel in einer Stadt wie Hamburg in einem demokratischen, freiheitlichen Staat wie Deutschland möglich sein müsse. Nur, dass er im Vorfeld eine „Sicherheitsgarantie“ während des Gipfels für alle Hamburger und Gäste ausgesprochen hatte, würde er so nicht wiederholen, räumte Scholz ein.
Mangel an Glaubwürdigkeit?
Es ist das Paradox dieses intellektuellen und fachlich ausgesprochen versierten Politikers, dass es ihm extrem schwer fällt, in Krisensituationen Empathie und Gefühle zu zeigen. Hinzu kommt die fast nicht vorhandene Neigung, Fehler einzugestehen. Für Scholz, der immer alles im Griff haben will, käme das dem Eingeständnis eigener Schwäche gleich – undenkbar für ihn. Andere sehen das als ein Zeichen intellektueller Arroganz und eines Mangels an Glaubwürdigkeit.
Dass den meisten Hamburgern und wohl auch den Deutschen insgesamt von dem Gipfel in erster Linie die Bilder brennender Barrikaden und Steine werfender Vermummter in Erinnerung bleiben, bedeutet darüber hinaus einen weiteren schweren politischen Schaden für den Bürgermeister. Das weltweit registrierte Treffen der mächtigsten Politiker an Alster und Elbe sollte ein wichtiger Baustein seiner Strategie sein, Hamburg als „Big City“ im positiven Sinn auf der Weltkarte zu platzieren.
Dabei war schon das, wenn auch knappe Nein der Hamburger zur Ausrichtung Olympischer Spiele Ende 2015 Scholz kräftig in die Parade gefahren. Überhaupt scheint auf jeden Fall mindestens die Hälfte der Bevölkerung von allen allzu hoch fliegenden Ideen wenig zu halten. So zeigte die in diesem Jahr geführte Diskussion darüber, ob Hamburg eine Weltstadt werden müsse (oder schon sei), deutliche Reserven bei vielen Menschen solchen Ansprüchen gegenüber. Auch der im Grunde erfreuliche, nicht zuletzt durch die Anfang des Jahres eröffnete Elbphilharmonie verstärkte Tourismus-Boom ist etlichen Hamburgern zunehmend suspekt.
Bemühen um weltweite Aufmerksamkeit
Scholz’ Bemühen um weltweite Aufmerksamkeit für die Stadt belegt auch, dass er – erfolgreich – alle diplomatischen Hebel in Bewegung setzte, um den kanadischen Ministerpräsidenten Justin Trudeau als Botschafter von Liberalität und Integration im Februar als Ehrengast des Matthiae-Mahls ins Rathaus zu holen. Nicht nur, weil dieses protokollarische Großereignis des ältesten noch begangenen Festmahls der Welt an vielen Hamburgern vorbeigegangen sein dürfte, entsteht gelegentlich der Eindruck, dass die ehrgeizige Agenda des Bürgermeisters und die Gefühlslage und Lebensrealität der wählenden Hamburger doch recht weit auseinander klaffen. Auch darin liegt ein gewisses Paradox für Scholz im mittlerweile sechsten Amtsjahr.
Andererseits birgt die Neigung vieler Wähler, vor allem auf das eigene Umfeld zu achten und die eigenen Interessen in den Mittelpunkt zu rücken, für Scholz auch die Chance, dass die Szenen des Gipfels im Laufe der Zeit in den Hintergrund rücken. Mit Blick auf die nun näher rückende Bürgerschaftswahl im Frühjahr 2020 dürften andere Fragen im Vordergrund stehen: Gibt es genügend bezahlbaren Wohnraum? Klappt es mit der Betreuung der Kinder in den Kitas? Lernen Jungen und Mädchen genug in der Schule? Sind die Straßen in einem vernünftigen Zustand und läuft der Verkehr? Und nicht zuletzt: Ist die Stadt sicher?
Trotz eines deutlichen Dissenses bei der Bewertung des G-20-Gipfels hat sich die rot-grüne Koalition weiterhin als stabil erwiesen. Die Steuereinnahmen sprudeln seit mehreren Jahren, und die Stadt erwirtschaftet so, jedenfalls nach konventioneller Betrachtung, einen jährlichen Überschuss von mehreren Hundert Millionen Euro. Das dämpft manchen Konflikt. Auch Scholz’ Verhandlungsgeschick bei der Neuregelung der Bund-Länder-Finanzen im Mai hat erheblich zur positiven Finanzsituation beigetragen. Für Hamburg rechnet Scholz mit „vielen 100 Millionen Euro mehr“. Bleibt als Damoklesschwert das Milliardenrisiko, das die HSH Nordbank darstellt ...
295 Lehrer zusätzlich
Immerhin: Einmal mehr gelang es Rot-Grün Ende des Jahres, einen unangenehmen Volksentscheid zu vermeiden – diesmal durch einen teuer erkauften Kompromiss mit der Volksinitiative „Gute Inklusion“. Rund 25 Millionen Euro jährlich wird es letztlich kosten, wenn im Laufe der kommenden Jahre 295 Lehrer zusätzlich eingestellt werden. Die Pädagogen sollen die Qualität des inklusiven Unterrichts, der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf einschließt, verbessern. Außerdem sollen rund 100 Millionen Euro langfristig in den barrierefreien Ausbau der Schulen investiert werden.
Schon haben sich zwei weitere Volksinitiativen auf den Weg gemacht. Der Naturschutzbund (Nabu) will gegen weiteren Grünfraß durch den forcierten Wohnungsbau mobil machen. Das Ansinnen könnte tatsächlich einen Keil zwischen SPD und Grüne treiben, schließlich ist der Schutz der Natur ein Kernanliegen der Grünen. Allerdings hat die Volksinitiative mehr Petitionscharakter und verpflichtet Senat und Bürgerschaft nicht direkt zum Handeln.
Einig sind sich SPD und Grüne dagegen in der Ablehnung der Forderungen der Volksinitiative „Mehr Hände für Hamburger Kitas“. Deren Forderungen belaufen sich nach aktuellen Berechnungen des Senats auf zusätzliche Ausgaben in Höhe von 350 Millionen Euro. Hier wird die Grenze der Kompromissbereitschaft von Rot-Grün voraussichtlich überschritten sein, weil Ausgaben in dieser Höhe als Eingriff in die Budgethoheit der Bürgerschaft gesehen werden. Eine Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit der Volksinitiative gilt daher als wahrscheinlich.
Nicht mehr Geld für Straßenreinigung
Dass die parlamentarische Opposition wirkt und es im Koalitionsgebälk doch gelegentlich knirscht, zeigte sich am Beispiel der Straßenreinigungsgebühr. Rot-Grün wollte die Grundeigentümer mit 27 Millionen Euro zur Kasse bitten, um rund 400 Reinigungskräfte zusätzlich einzustellen – dafür war angeblich kein Geld im Haushalt vorhanden. Geschickt organisierte Oppositionschef Trepoll ein breites Bündnis gegen die Müllgebühr, und Mitte November stampften Scholz und Umweltsenator Jens Kerstan (Grüne) die Gebührenpläne ein. Plötzlich war doch genug Geld da. Dass Kerstan, dessen Haus für die Sauberkeitsoffensive verantwortlich ist, hinterher so tat, als sei er für die Gebührenidee nicht verantwortlich, hat bei den Sozialdemokraten denn doch für wenig Begeisterung gesorgt.
Dennoch hätte Scholz nach dem G-20-Schock zunehmend zum politischen Alltag zurückkehren können, wenn ihm nicht die Bundestagswahl am 24. September einen kräftigen Strich durch die Rechnung gemacht hätte. Die erfolgsverwöhnte Hamburger SPD fiel bei den Zweitstimmen mit 23,5 zu 27,2 Prozent deutlich hinter die CDU zurück – sicherlich auch eine Quittung für den G-20-Gipfel.
SPD- Politik auf Bundesebene
Doch Scholz trieb vor allem das desaströse Ergebnis der SPD auf Bundesebene um: 20,5 Prozent – der schlechteste Wert seit 1949. Der stellvertretende Bundesvorsitzende, der Scholz auch ist, analysierte messerscharf die Ursachen für den Niedergang seiner Partei wie der sozialdemokratischen Idee in Europa insgesamt. Scholz bezog vor allem mit seinem Strategiepapier „Keine Ausflüchte! Neue Zukunftsfragen beantworten! Klare Grundsätze!“ öffentlich schonungslos Position. Viele interpretierten den Text als kaum verhohlene Attacke auf den gescheiterten SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz – und so war es auch gemeint. Dennoch griff Scholz den SPD-Chef nicht direkt an.
Viele erwarteten von dem Bürgermeister gleichwohl, dass er Schulz Anfang Dezember bei der Wahl des Parteivorsitzenden herausforderte, was aber nicht geschah. Scholz zeigte sich solidarisch. Schulz wurde mit achtbarem Ergebnis wiedergewählt, während der Mahner Scholz mit nur 59,2 Prozent abgestraft wurde. Letztlich war Scholz’ Verhalten nach dem kühnen Vorlauf ein wenig paradox, wenngleich ihm zugute zu halten ist, dass er seine (geringen) Chancen auf dem Parteitag vermutlich realistisch einzuschätzen wusste.
Dass es ein schlechtes Jahr für den Politiker Olaf Scholz war, liegt auf der Hand. Vielleicht erweist sich 2017 in der Rückschau sogar als Wendepunkt in der Karriere des Sozialdemokraten.
Der Neujahrsempfang
Am 1. Januar bittet der Erste Bürgermeister die Hamburger sowie Gäste der Stadt traditionell zum Neujahrsempfang ins Rathaus. Jeder kann Olaf Scholz und der Zweiten Bürgermeisterin Katharina Fegebank seine Neujahrswünsche persönlich überbringen. Der Empfang beginnt um 10.45 Uhr mit dem Konzert des Polizeiorchesters auf dem Rathausmarkt. Von 11 Uhr an erwarten Fegebank und Scholz die Besucher im Turmsaal.