Neustadt. Seit 20 Jahren sprechen sie in Schulen über das NS-Regime. Es geht um Auseinandersetzung mit allen Formen von Diktaturen.

Wilhelm Samuelsohn geht recht mühsam auf seinen Rollator gestützt, und sehen kann er auch nicht mehr so gut. Aber wenn er spricht, dann mit einer festen, leicht hamburgisch eingefärbten Stimme eines Mannes in den besten Jahren, die man einem 98-Jährigen nicht unbedingt zutraut. Und Wilhelm Samuelsohn wird am kommenden Montag einmal mehr eine Hamburger Schule besuchen, um den Schülern zu schildern, „wie es damals war“, in den dunkelsten Jahren der neueren deutschen Geschichte. „Und wissen Sie, welche Frage von den Schülern immer kommt?“, sagt er schmunzelnd, um sofort selbst die Antwort zu geben: „Haben Sie Hitler damals getroffen?“

Wilhelm Samuelsohn kann immerhin erzählen, dass der Führer im Jahre 1935 in Hamburg im offenen Mercedes an ihm vorbeigefahren war, als er, damals 16 Jahre alt und Mitglied der Marinejugend, gemeinsam mit zigtausend Hamburgern die Straßen säumte, den rechten Arm zum Hitlergruß erhoben. Es war das Jahr, in dem seinem jüdischen Adoptivvater das Frontkreuz für die Teilnahme am Ersten Weltkrieg verliehen wurde. „Mein Adoptivvater war so eine Art ,über-assimilierter‘ Jude“, sagt Wilhelm Samuelsohn, „der perfekte Deutsche sozusagen, der sich nie hat vorstellen können, dass ihn die Nazis während der Reichspogromnacht 1938 abholen würden.“ Sein Adoptivvater ­habe dann den Krieg zwar auf wundersame Weise im Konzentrationslager Sachsenhausen überlebt, aber er sei danach ein gebrochener und schwer kranker Mensch gewesen.

Erinnerungen dürfen nicht verblassen

Wilhelm Samuelsohn ist einer der rund 20 „Zeitzeugen“, die über das Seniorenbüro Hamburg e.V. das gesellschaftliche, soziale und kulturelle Leben in der Hansestadt ehrenamtlich aktiv mitgestalten. Die Zeitzeugen setzen sich dabei, nicht zuletzt selbstkritisch, mit der Historie auseinander und versuchen in den Schulen, Fragen der jüngeren Generation nach dem „warum“ zu beantworten. „Neuerdings wollen die Schüler häufig wissen, wie angesichts unserer Nazivergangenheit eine Partei wie die AfD entstehen konnte“, sagt Wilhelm Samuelsohn.

Ein Grund hierfür dürfte sein, dass Erinnerungen die Eigenschaft besitzen, zu verblassen. Aber gerade „Demokratie braucht Erinnerung“, sagt Barbara Duden (SPD), die Vizepräsidentin der Hamburgischen Bürgerschaft, zur Begrüßung der rund 120 Teilnehmer am gleichnamigen Symposium im Kaisersaal des Hamburger Rathauses anlässlich des 20. Bestehens der „Zeitzeugenbörse“ am vergangenen Donnerstagabend. Es ist gleichzeitig auch eine Feierstunde für dieses Projekt, „das ,Geschichte von unten‘ seit zwei Jahrzehnten erlebbar macht, und das äußerst erfolgreich“, sagt Barbara Duden. Anwesend sind unter anderem Ulrich Kluge vom Seniorenbüro, Prof. Rainer Nicolaysen, Vorsitzender des Vereins für Hamburgische Geschichte, Lehrer, Schüler, Projektmitarbeiter und selbstverständlich auch ein Dutzend der Zeitzeugen.

Zeitzeugen suchen dringend Nachwuchs

„Geschichte von unten“ bedeutet dabei nichts anderes, als dass die erzählten, authentischen Biografien der Zeitzeugen den jungen Menschen in den Schulen die Vergangenheit und damit die schrecklichen Irrungen und Verwirrungen der älteren Generation weitaus plastischer, drastischer und damit auch glaubwürdiger nahebringen können als es die Geschichtsbücher vermögen.

„Damit unterstützt die Zeitzeugenbörse eine nachhaltige Erinnerungskultur, die wir in unserer Freien und Hansestadt pflegen. Uns liegt es sehr am Herzen, dabei den Blick auf die Opfer zu richten und diesen Menschen Namen und Gesichter zu geben“, sagt die Vizepräsidentin der Hamburgischen Bürgerschaft, die sich als politische Institution kontinuierlich mit der NS-Geschichte Hamburgs und den Folgen des Zweiten Weltkriegs auseinandersetzt und das „Zeitzeugenbörsen“-Projekt maßgeblich unterstützt.

„Die biologische Uhr tickt unaufhaltsam“

„Aber die biologische Uhr tickt unaufhaltsam“, sagt mahnend Claus Günther (86), der vor 20 Jahren die „Zeitzeugenbörse“ mitbegründete. „Viele von uns sind ja inzwischen schon über 90, und natürlich suchen wir engagierten Nachwuchs für diese wichtige Sache.“ Erzählte Geschichte aus zweiter Hand könne ja auch spannend sein, so wie die 50er- und 60er-Jahre, als die Demokratie in der Bundesrepublik das Laufen gelernt habe.

Die Resonanz, die er jedes Mal auf seine Erzählungen von den Schülern und Lehrern erfahre, sei jedenfalls beeindruckend. Und auch ihm werde immer wieder die Frage gestellt, ob er ,Hitler damals getroffen habe‘. Claus Günther muss das verneinen. „Aber wenn ich denen dann zum Beispiel erzähle, wie ich 1938, als Siebenjähriger, mit meinen Spielkameraden einen jüdischen Nachbarsjungen als ,Itzig, Itzig, Judenschwein‘ so lange bepöbelt habe, bis mir dessen größerer Bruder mit einer schallenden Ohrfeige klar machte, ,dass Juden auch Menschen seien‘, kannst du die Stecknadel fallen hören.“

Weiterer positiver Effekt

Ihm werde immer noch speiübel, wenn er heute daran denke, wie man sie damals als Kinder manipuliert habe. „Wenn wir auch nur einen einzigen gefährdeten Jugendlichen davon abbringen können, sich in irgendeiner Weise extremistisch zu betätigen, haben wir doch schon was gewonnen“, sagt Claus Günther.

Er legt der großen Wert darauf, dass es ihm und den „Zeitzeugen“ nicht nur darum gehe, den Nationalsozialismus anzuprangern und Erklärungsversuche anzubieten, sondern um die Auseinandersetzung mit allen Formen politischer und religiöser Diktatur. Dann fällt ihm noch etwas Wichtiges ein: „Unser Ehrenamt hat übrigens noch einen weiteren positiven Effekt: Auf unseren regelmäßigen Treffen reden wir Alten über alles Mögliche – aber niemals über unsere Krankheiten“, sagt er. Und lacht.