Hamburg. Angefangen hat alles im alten katholischen Mariendom – doch in den dunklen Ecken ging es meist alles andere als fromm zu.

Wenn Schuppius sprach, hörte ganz Hamburg zu. Johann Balthasar Schupp (1610–1661), genannt Schuppius, hatte es bis zum Professor der Geschichte und Beredsamkeit und in seinen letzten Lebensjahren bis zum Hauptpastor an der Hauptkirche St. Jacobi gebracht. Was er in der Advents- und Weihnachtszeit jedes Jahr im Mariendom erlebte, brachte ihn in Rage.

Gaukler, Händler und Marktschreier gaben sich auf dem traditionellen Christmarkt ein Stelldichein. Täglich trieben allerdings auch Taschendiebe dort ihr Unwesen, und das in einem Gotteshaus, unmittelbar in den Seitenschiffen der backsteingotischen Hallenkirche. „Wann wird grösserer Wucherer, grössere Schindery und Betriegerey in Hamburg getriben, als an dem Christ Abend, in der Thumbkirchen ...?“, wetterte der protestantische Geistliche um 1650 über das Spektakel, bei dem arme und reiche Hamburger vor dem Fest ihre letzten Einkäufe erledigten. Wenn sie denn dabei keine Schläge abbekamen und nicht Zeuge oder Opfer sexueller Gewalt wurden.

Grobes Durcheinander

Während die heutigen Weihnachtsmärktein Hamburg geordnet und nach strengen behördlichen Auflagen durchgeführt werden, herrschte einst grobes Durcheinander. Der Blick in die Kulturgeschichte der Hamburger Weihnachtsmärkte zeigt: Erst in der Moderne sind sie zu einem ästhetischen, wenn auch glühweinseligen Gesamtkunstwerk geworden. Längst sind die zahlreichen dezentralen Hamburger Weihnachtsmärkte ein beliebter Genussort für Flaneure – und keine bloßen Jahrmärkte mehr.

Die Wiege der Hamburger Weihnachtsmärkte liegt im alten katholischen Mariendom, den die Stadtväter von 1804 bis 1807 aus Kostengründen abreißen ließen. Im 12. und 13. Jahrhundert feierten die Hamburger das Weihnachtsfest ausschließlich in den Gotteshäusern, oft betrunken im Dom. So lag es nahe, dass dort auch eines Tages vor dem Fest Buden aufgebaut wurden. Denn im 14. Jahrhundert kamen in verschiedenen Regionen Deutschlands die ersten Weihnachtsmärkte auf.

Bei „Schietwetter“ durften Händler ins Gotteshaus

Weil der Mariendom das einzige große Gebäude in der Stadt war, konnten die Händler dort ihre Stände mit weihnachtlichen Spezereiwaren vor Wind und Wetter geschützt aufbauen. Zwar lehnte das Domkapitel ein solches Begehren im 14. Jahrhundert zunächst ab. Aber dann einigten sich Stadtväter und Domkapitel auf einen Kompromiss: Bei „Schietwetter“, also Regen oder Schnee, durften die Stände mit dem Segen der Geistlichkeit im Gotteshaus aufgebaut werden, allerdings weit weg vom Altar.

Die Weihnachtsmärkte brachten Einnahmen für das Domkapitel, jedoch machten die Schausteller, Händler, Handwerker und Gaukler den Dom rasch zu einem Ort des Vergnügens. Da verkauften die Händler Lebkuchen und Marzipan, das „Brot der Götter“, Spekulatius und Weihnachtsbier, außerdem lebende Gänse und Karpfen, Hühner und Branntwein. Jesuiten sorgten für die Verbreitung der Weihnachtskrippen auf solchen Märkten.Zunächst startete der Weihnachtsmarkt, den das Volk schlichtweg „Dom“ nannte, acht Tage vor dem Fest, später waren es drei Wochen. „Der Dom entwickelte sich zu einer Art Kaufhaus“, schreibt die Sozialhistorikerin Angelika Rosenfeld in ihrem Buch „Weihnachten im alten Hamburg“.

Arme und Reiche beieinander

Selten kamen sich Arme und Reiche in Hamburg so nahe wie bei diesem Treiben. Ein Mitarbeiter des Senats zeigte sich zu Beginn des 17. Jahrhunderts regelrecht angewidert: „Ist der Dom nicht ein kremer hauß, desgleichen nicht bald zu finden? Siehet man nicht zum großen ergerniße frömder und einheimischer Leute, dass die meisten stüele voll unflates, staubes und alte Lumpen (sind). Die Sessel (sind) zerbrochen, die Türen an den Stühlen hängen wie Diebe an Galgen, die Kanzel ist voll Spinnweben.“

Der deutsch-baltische Schriftsteller Garlieb Helwig Merkel (1769–1850) veröffentlichte in seinen 1801 erschienenen „Briefen über Hamburg und Lübeck“, wie er den „Dom“ vor allem in der Dunkelheit erlebt hat: „Späterhin versammelte sich der Pöbel. Dann sieht man an den hellen Plätzen ein buntscheckiges, lumpiges, ekelhaftes Gesindel gaffen und toben; an den dunklen Ecken sollen oft Leute bestohlen und gemißhandelt werden­ ...“

Die Wende kam prompt

Domherr Friedrich Johann Lorenz Meyer (1760–1844), Präses des Hamburger Domkapitels, klagte: „Die sparsam erleuchtete Kirche bietet ... der Unsittlichkeit ihre dunklen Schlupfwinkel.“ 1803 war Schluss mit lustig. Da wurde der Dom säkularisiert und von 1804 bis 1807 abgerissen. Der Abbruch wurde offiziell mit der enormen Baulast und dem Hinweis auf die unbedeutend kleine Domgemeinde gerechtfertigt.

Die Wende für die Weihnachtsmärkte kam prompt. Fortan fanden die Märkte an verschiedenen dezentralen Plätzen statt. Der Abschied von den dunklen Domecken erwies sich freilich als Vorteil. Besonders beliebt war der Gänsemarkt, der auch heutzutage wieder ein Ort für den Weihnachtsmarkt ist. Mit Gänsen, die vor dem Fest feil­geboten wurden, hat der Gänsemarkt tatsächlich etwas zu tun: Im 17. Jahrhundert war es üblich, die Gänse täglich auf dem dreieckigen Areal zu sammeln und anschließend durch das Dammtor auf die feuchten Wiesen hinauszutreiben. Für Gänse kurz vor Weihnachten lebensgefährlich.

Drehorgelspieler, Zauberkünstler, Wachs­figuren

Im 19. Jahrhundert wurden die aus dem Elsass stammenden Weihnachtsbäume auch in Hamburg populär. Drehorgelspieler, Zauberkünstler, Wachs­figuren, Tiere und vor allem Spielzeug für Kinder komplettierten in der Zeit der Romantik das Angebot auf dem Rummel. Das „Domgehen“ gehörte fest zum adventlichen Ritual, das häufig mit einem Besuch in einem Restaurant gekrönt wurde – bei Bier, Wein und Karpfen satt.

Nach dem Abriss das Doms dauerte es noch einige Jahrzehnte, bis der Senat den Schaustellern 1890 ein neues Amüsierfeld anbot: das Heiligengeistfeld. Deshalb tragen die nach wie vor stattfindenden Frühjahrs-, Sommer- und Wintervolksfeste den für Quiddjes möglicherweise etwas rätselhaften Namen „Dom“. Mit dem „Dom“ auf dem Heiligengeistfeld ist der schrille Jahrmarkt-Charakter des mittelalterlichen Weihnachtsmarktes bis heute erhalten geblieben.

Aber erst die vielen dezentralen Weihnachtsmärkte machen Hamburg inzwischen zu einer der schönsten deutschen Weihnachtsstädte.