Hamburg. Wissenschaftler des UKE bieten neues Training zur Stressbewältigung an. “Fühle mich wie ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch“.

Eine Frage genügt an diesem Morgen, um den Stress in Erinnerung zu rufen – und die Betroffenheit. „Wie fühlt ihr euch gerade?“, fragt die Seminarleiterin. Sarahs Augen werden feucht, Röte schießt in ihr Gesicht. Sie knetet ihre Hände, rutscht auf ihrem Stuhl hin und her. Die gebürtige Iranerin, die ihren echten Namen nicht nennen möchte, arbeitet als Dolmetscherin in der Flüchtlingshilfe.

Vor allem ein Schicksal geht ihr nicht mehr aus dem Kopf: Eine junge Iranerin, im Rollstuhl sitzend, weil eine Rückenoperation in ihrem Heimatland missglückte, sucht nun in Deutschland medizinische Hilfe. „Diese Frau hat so viel Energie, so viel Hoffnung, sie will studieren“, erzählt Sarah. „Ich war beeindruckt von ihr. Aber sie in diesem Zustand zu sehen ...“ Sarah schluckt und atmet dann tief ein. „Es fällt mir schwer, das zu verarbeiten.“

Wenn Helfer Hilfe brauchen

Damit ist die Flüchtlingshelferin in Hamburg nicht allein. Im Schulungsraum des Ottenser Bildungszentrums Werkstatt 3 sitzen 20 weitere Helfer, die selbst Hilfe benötigen. Sie alle arbeiten für das Projekt „Mit Migranten für Migranten“. Einige leben seit Kurzem in Deutschland, andere seit Jahren. Die meisten stammen aus afrikanischen, asiatischen oder südamerikanischen Leben und sind deshalb zwar vertraut mit dem kulturellen Hintergrund der Migranten, um die sie sich nun kümmern. Doch keiner von ihnen ist gelernter Therapeut oder Sozialarbeiter und hat gelernt, mit Geschichten über Vertreibung, Einsamkeit, Hunger und Verletzungen umzugehen.

Abhilfe schaffen soll ein zweitägiges Selbsthilfetraining, das in Hamburg von der Peter Möhrle Stiftung gefördert und von Mitarbeitern des Zen­trums für Psychosoziale Medizin am Uniklinikum Eppendorf (UKE) durchgeführt wird. Dabei gehe es nicht um „psychische Schwäche“, sondern um Biologie, sagt die Leiterin des Projekts, Monica Blotevogel. „Wir konzentrieren uns darauf, wie der Körper auf Wohlbefinden reagiert, nämlich mit Entlastung. Indem die Teilnehmer ihre Aufmerksamkeit darauf lenken, können sie ihr körperliches Befinden und ihren Umgang mit Stress beeinflussen.“

Reden über psychische Probleme

Von anderen Stressbewältigungsmethoden unterscheide sich das Training durch seinen einfachen Ansatz, der unabhängig vom kulturellen Hintergrund der Teilnehmer sei. „Die Scham, über psychische Probleme zu sprechen, kann bei Migranten noch stärker ausgeprägt sein als bei Deutschen“, erläutert Blotevogel. „Da ist es hilfreich, von einer gemeinsamen Basis auszugehen, die bei allen Menschen nach den gleichen Prinzipien funktioniert – dem Nervensystem.“

„Coreszon“ heißt das UKE-Projekt, das als Ergänzung zur Standardversorgung dienen soll. Dem Training zugrunde liegt ein Modell, das die US-Traumatherapeutin Elaine Miller-Karas auf der Grundlage neurobiologischer Forschung und körperbasierter Psychotherapieformen entwickelt hat. Es soll Fachkräften und Ehrenamtlichen in der Flüchtlingshilfe ebenso helfen wie Flüchtlingen, die ihr Wissen dann an andere Flüchtlinge weitergeben können.

Die meisten Mitarbeiter im Team von UKE-Therapeutin Monica Blote­vogel haben selbst einen Flucht- oder Migrationshintergrund. Ihre Schulungen führen sie auf Dari, Arabisch, Deutsch und Englisch durch.

Blotevogel zur Seite steht an diesem Morgen die angehende Islamwissenschaftlerin Robin Al-Shahiri. Beide Trainerinnen geben sich große Mühe, doch die Teilnehmer wirken zunächst angespannt. Nur zögerlich beantworten sie Fragen. Dabei gibt es so viel zu erzählen. „Ich habe mich gefühlt wie ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch“, wird Sarah später erzählen.

Auf den Körper achten

Nach den ersten Übungen aber lockert sich die Stimmung langsam auf. Die Teilnehmer sollen einander erzählen, was sie an diesem Tag im Rahmen ihrer psychischen Widerstandsfähigkeit (Resilienz) schon erlebt haben – wann es ihnen gut ging und wann es ihnen zu viel wurde. Sie sollen sich darauf besinnen, was ihnen Kraft, Freude oder Ruhe bringt – seien es ihre Kinder, Sport und andere Hobbys oder bestimmte Orte –, um diese Quellen künftig intensiver zu nutzen. Sie sollen gegenseitig darauf achten, wie sich bei der Besinnung auf diese Quellen Mimik, Gestik, Atmung und Muskelspannung ändern. „Dadurch verstärkt sich die Aufmerksamkeit für Erfahrungen, die zu unserem Wohlbefinden beitragen“, erläutert Blotevogel. „Die gegenseitige Unterstützung ist eine Besonderheit der Methode.“

Zudem hören die Teilnehmer, welche Strategien sich zur Soforthilfe eignen, wenn die Belastung überhandnimmt. Bei Aufregung könne es etwa helfen, ein Glas mit kaltem Wasser zu trinken, weil das den Parasympathikus aktivieren könne, erläutert Blotevogel. Als Teil des Nervensystems fungiert der Parasympathikus als Gegenspieler des Sympathikus und regt unter anderem Körperfunktionen an, die der Regeneration dienen.

Es geht um das Nervensystem

Weitere Tipps: Fest gegen die Wand zu drücken und die Muskelspannung im Körper wahrzunehmen könne zu einem Abbau von Stresshormonen führen. Sich im Raum umzuschauen und alles zu benennen, was die Aufmerksamkeit fängt, könne von belastenden Eindrücken ablenken, erläutert Blotevogel. „Immer geht es darum, das Nervensystem in einen ausgeglichenen Zustand zu bringen.“

Inwieweit das Training auch langfristig die Fähigkeit zur Stressbewältigung verbessert, ist noch unklar. Das UKE-Team um Blotevogel untersucht dies mit Fragebögen, die den Teilnehmern vor und direkt nach dem Training sowie sechs Monate später zugehen. „Die bisherigen Ergebnisse sind vielversprechend“, sagt Blotevogel.

Für Flüchtlingshelfer und Flüchtlinge
ist der zweitägige Kurs kostenlos. Ansonsten kostet er 200 Euro. Kontakt: mail@coreszon.com, Tel. 74105-88 86