Hamburg. Nach dem Ausstieg der FDP aus der Sondierung wächst der Druck auf die SPD. Und der auf den Hamburger Bürgermeister. Eine Analyse.
Eine Minute und vier Sekunden mit sechs etwas in die Länge gezogenen Sätzen ohne echten Nachrichtenwert – das war bis gestern der einzige öffentliche Beitrag des stellvertretenden SPD-Bundesvorsitzenden und Ersten Bürgermeisters zu den Konsequenzen aus dem Aus für ein Jamaika-Bündnis. Und keine Nachfragen, bitte – Olaf Scholz entfernte sich am Montagabend mit einem Lächeln von den aufgestellten Kameras und Mikrofonen in Richtung des Sitzungssaals der SPD-Bürgerschaftsfraktion. Er gibt in dieser Woche keine Interviews. Nur ein lange geplanter Auftritt bei ZDF-Talker Markus Lanz gestern Abend stand im Terminkalender des Bürgermeisters.
Mit dem abrupten Ausstieg der FDP aus den Bemühungen um eine Regierungskoalition im Bundestag sind die Karten im politischen Berlin völlig neu gemischt. Und damit wächst der Druck auf die SPD, ihre Festlegung auf die Oppositionsrolle aufzugeben – sei es, doch in Verhandlungen über eine Große Koalition einzutreten, sei es, eine Unions-geführte Minderheitsregierung hin und wieder zu unterstützen.
Olaf Scholz lässt sich nicht aus der Deckung locken
Aus der SPD-Bundestagsfraktion sind immer mehr Stimmen wie die des einflussreichen Hamburger Bundestagsabgeordneten Johannes Kahrs zu hören, die Parteichef Martin Schulz auffordern, seine starre Fixierung auf Neuwahlen aufzugeben. Und Olaf Scholz? Auch bei Markus Lanz ließ er sich nicht aus der Deckung locken. Dreimal fragte der Moderator ihn, ob er sich vorstellen könne, SPD-Vorsitzender zu werden – dreimal wich Scholz aus. Er habe noch nie über sein Innenleben gesprochen. Punkt.
Leitartikel: Neue Wahl, alte Probleme
Auch die eindringliche Aufforderung des Publizisten Wolfram Weimer, das Ruder in der SPD zu übernehmen, ließ Scholz an sich abperlen. Immerhin deutete er an, dass er Neuwahlen für die bessere Lösung hält: "Es wäre falsch zu sagen, dass das keine Möglichkeit ist". Allerdings schloss Scholz auch eine erneute Große Koalition nicht kategorisch aus. Eine Minderheitenregierung, die von der SPD toleriert wird, sieht Scholz sehr skeptisch: "Aus meiner Sicht ist das etwas, womit man sich sehr schwer tun sollte."
SPD braucht jetzt schnelle Entscheidungen
Scholz hat wie kein zweiter maßgeblicher Sozialdemokrat nach der historischen Niederlage bei der Bundestagswahl öffentlich und für seine Verhältnisse sehr deutlich Kritik am Wahlkampf und am Gesamtzustand seiner Partei geübt. Er hat Martin Schulz nicht direkt angegriffen, aber durchaus gemeint, etwa mit dem erstaunlichen Satz: „Die SPD hätte die Wahl gewinnen können.“ Martin Schulz will sich auf dem Parteitag am 7. Dezember anscheinend unverdrossen zur Wiederwahl stellen.
Doch Schulz’ zentraler politischer Ansatz – langfristiger Neuaufbau der SPD in geordneten Bahnen aus der Opposition heraus – ist seit Sonntag Makulatur. Egal ob es auf eine Große Koalition, eine Minderheitsregierung oder Neuwahlen hinausläuft: Jetzt braucht die SPD sehr schnell Entscheidungen. Das könnte die Stunde von Olaf Scholz sein, der nicht nur sturmfest und krisenerprobt ist, sondern auch wie wenige andere Sozialdemokraten über reichlich Regierungserfahrung verfügt.
Verlässlicher Verhandler mit strategischem Weitsinn
Und was vielleicht am wichtigsten ist: Scholz ist ein gewiefter, dabei aber konsensorientierter und verlässlicher Verhandler mit strategischem Weitsinn. Er wird in der Union einschließlich Kanzlerin Angela Merkel respektiert, wenn nicht sogar ein wenig gefürchtet. Schließlich: Dass Olaf Scholz’ politischer Ehrgeiz weit über die Grenzen des Stadtstaats Hamburg und das Amt des Bürgermeisters hinausreicht, ist offenkundig. Die Frage lautet also: Worauf wartet Olaf Scholz?
Die etwas ernüchternde erste Antwort liegt nahe: Er wartet einfach auf den richtigen Augenblick. Scholz wird in seiner Partei nicht geliebt. Viele haben seine beinharte Verteidigung der in der Partei heftig umstrittenen Agenda-2010-Reformen des SPD-Kanzlers Gerhard Schröder nicht vergessen. Scholz übrigens auch nicht, seine damalige Rolle hätte ihn fast die politische Karriere gekostet. Diese Erfahrungen haben ihn vorsichtig und wohl auch noch risikoscheuer gemacht. Scholz weiß natürlich auch, dass er als Sozialdemokrat eines kleinen Landesverbands über keine Hausmacht in der SPD verfügt. Eine Kampfkandidatur um den Parteivorsitz, so sehr ihn das Amt auch reizt, dürfte für ihn daher undenkbar sein. Scholz wird also abwarten, ob sich die Stimmung doch noch zu seinen Gunsten wendet, sprich: ob ihn prominente Parteifreunde auffordern zu springen.
Scholz hat Sinn für das richtige Timing
Andererseits: Die aktuelle Lage weist eine enorme Dynamik auf, und die weitere Entwicklung hängt von vielen Variablen ab: Kippt die Stimmung in der SPD doch noch in Richtung Große Koalition? Wird Merkel doch bereit sein, aus Furcht vor Neuwahlen eine Minderheitsregierung anzustreben? Und nicht zuletzt: Kann sich Martin Schulz, der kein Hoffnungsträger mehr ist, an der Spitze der SPD halten?
Dass Scholz durchaus Sinn für das richtige Timing hat, bewies er bei seinem Wiederaufstieg in Hamburg. Die Lage der hiesigen SPD 2009/10 erinnert durchaus an die heutige der Bundes-SPD – mit einem Wort: am Boden. Scholz wurde von einer zutiefst zerstrittenen und frustrierten Partei als Retter gerufen und im November 2009 zum Landesvorsitzenden gewählt. Er befriedete die Partei und ließ sich lange bitten, als Bürgermeisterkandidat anzutreten, und sprang erst, nachdem die schwarz-grüne Koalition zerbrochen war. Der Rest der Geschichte: Seit 2011 regiert Scholz im Rathaus.
Selbst wenn sich Martin Schulz noch einmal als Parteivorsitzender durchsetzen kann, wird er auf keinen Fall Spitzenkandidat der SPD bei Neuwahlen sein, falls es dazu kommen sollte. Nach Lage der Dinge kommen nur zwei Sozialdemokraten ernsthaft in Betracht: Bundestagsfraktionschefin Andrea Nahles und Olaf Scholz.
Noch spielt die Zeit für Olaf Scholz
Sollte die SPD doch noch die Tür zu Verhandlungen mit der Union über eine Große Koalition öffnen, wäre Scholz’ Rolle an zentraler Stelle der Verhandler vorgezeichnet. Im Falle eines Abschlusses könnte auf Scholz das Amt des Finanzministers zukommen – eine ausgezeichnete Ausgangslage, um sich gegenüber einer geschwächten Kanzlerin zu profilieren: nicht zuletzt als möglicher Kanzlerkandidat 2021.
Noch spielt die Zeit für Olaf Scholz, aber nicht mehr lange.