Hamburg. Die Premiere „Auerhaus“ am Thalia in der Gaußstraße erzählt die Geschichte einer jugendlichen Utopie. Vorlage ist Bov Bjergs Roman.
Jugendliche stellen sich ihre Zukunft vor. Einer wird Raketenforscher. Eine wird Lehrerin, später Schulleiterin, die jüngste Schulleiterin überhaupt. Einer wird ein Fach ohne Numerus clausus studieren, BWL in Cottbus oder so, und dann wird er Vater werden und Hausmann. Jugendliche träumen. Das wird so alles nichts. Einer wird seinen Abschluss versemmeln. Eine wird ins Gefängnis kommen, Brandstiftung mit Todesfolge. Und einer, Frieder, wird sich das Leben nehmen.
Bov Bjergs Roman „Auerhaus“ erzählt die Geschichte einer jugendlichen Utopie: Fünf Teenager gründen eine WG, weil einer versucht hat, Suizid zu begehen, und die Ärzte der Meinung sind, ein Auszug von zu Hause wäre hilfreich, nur alleine sollte er besser auch nicht wohnen. Also ziehen sie in ein geerbtes Anwesen im Umland von Stuttgart, das seinen Namen bekommt, weil die neuen Bewohner lautstark den 80er-Jahre-Partyhit „Our House“ durch die Nacht schallen lassen, was für die popkulturell wenig beschlagene Nachbarschaft klingt wie „Auerhaus“.
Stahlgerüst als Haus
Ute Radler hat dieses Haus als stilisiertes Stahlgerüst auf die Gaußstraßenbühne des Thalia Theaters gebaut, als Gerüst, das frappierend an übergroßes Spielplatzmobiliar erinnert. Und auch so genutzt wird: In Franziska Autzens Inszenierung klettern, stürzen, krabbeln die Darsteller praktisch ununterbrochen über die Stahlträger.
Das Bühnenbild macht die Wohngemeinschaft klarer als in der Vorlage als Modell kenntlich – spielerisch probieren hier fünf Menschen den Traum vom besseren Leben aus, zwischen Rausch, Liebe, Popmusik. Pascal Houdus als gutwilliger Kumpel Höppner, Franziska Hartmann als höhere Tochter Vera, Marie Jung als pyromanische Pauline und Julian Greis als schwuler Elektriker Harry umschwirren eine Leerstelle, den abwesenden Frieder, der nur in der Musik auftaucht, im melancholischen Britpop, den Frieder Jung an Piano und Synthesizer über den Text legt. Da träumen welche vom besseren Leben, von Solidarität, von Freundschaft, von Sex, und wie das Schauspielerquartett plus musikalische Begleitung diesen Traum performt, das zerreißt einem das Herz.
Man muss diese Figuren lieben
Das „Auerhaus“ ist eine Utopie, und wie die meisten Utopien scheitert auch diese, natürlich. Roman wie Theaterstück werden vom Schluss her erzählt, von Frieders Beerdigung, man weiß also schon, dass am Ende der Tod steht. Vielleicht muss das Auerhaus scheitern, weil der Mensch zu viel Liebe nicht aushält, vielleicht, weil man diesen wunderbaren Figuren nicht dabei zusehen möchte, wie sie sich im Alltagstrott aufreiben. Aber reizend bekiffte Dialoge wie der zwischen Vera und Harry werden die gescheiterte Utopie überleben: „Warum dealst du denn? Du brauchst das Geld doch nicht?“ „Ach, guck mich doch mal an! Anschaffen lohnt sich bei mir ein, zwei Jahre, aber ich muss doch auch an meine Altersvorsorge denken!“ Schwäbisches Vorsorgedenken paart sich mit Aussteigermentalität – man kann nicht anders, man muss diese Figuren lieben.
Bjergs 2015 erschienener Roman wurde mittlerweile schon mehrfach für die Bühne adaptiert, das Thalia ist mit seiner Inszenierung fast ein wenig spät dran. Egal: Sein Publikum wird dieser Abend finden. Einerseits bei Zuschauern, die heute um die 50 sind und die sich noch das eine oder andere utopische Ideal bewahrt haben (und die mit „Our House“ etwas anfangen können), andererseits bei Teenagern, die die selbstvergessene Jugendlichkeit dieser Performance schätzen. Was ein wenig untergehen wird, ist der Fachblick; der schaut in der Regel auf Uraufführungen und verpasst so Autzens zurückhaltende, kluge, konzentrierte Inszenierung.
Aber auch das ist eine jugendliche Utopie: sich einen Dreck darum zu scheren, ob unter Marketingperspektive jede erdenkliche Zielgruppe bedacht wird.
„Auerhaus“ wieder am 25.11., 26.11., 9.12., 21.12., 28.12., Thalia in der Gaußstraße, Gaußstr. 190, Karten unter T. 32 81 44 44