Hamburg. Personalnot, Überlastung, zurückgestellte Fälle. Doch der oberste Polizist Ralf Martin Meyer appelliert ans Durchhaltevermögen.

Die Gewerkschaft der Kripobeamten in Hamburg warnt vor einem Zusammenbruch: Die Personaldecke sei gefährlich dünn, Tausende Verfahren blieben einfach „auf der Fensterbank“ liegen. Auch die Alltagskriminalität sei inzwischen stark betroffen. Im Interview mit dem Abendblatt bezieht Polizeipräsident Ralf Martin Meyer Stellung – und appelliert an seine Beamten, in der schwierigen Situation „die Ärmel hochzukrempeln“.

Herr Meyer, bei der Kripo und bei der Staatsanwaltschaft herrscht Personalnot. Lohnt es sich noch, bei Alltagsdelikten Anzeige zu erstatten?

Ralf Martin Meyer: Ja, natürlich. In jedem Fall wird beurteilt, ob Ermittlungen Erfolg versprechend sind. Wenn es eine Chance gibt, den Täter zu fassen, werden auch alle Hebel dazu in Bewegung gesetzt. Das aber die Belastung im Moment hoch ist, das steht außer Frage.

Kripo-Beamte berichten davon, dass sie die Akten nur noch in Kartons unter den Schreibtischen stopfen, weil sie nicht mehr hinterherkommen.

Das kann man nicht verallgemeinern. Richtig ist, es knirscht gerade an einigen Stellen, weil wir nach dem G20-Einsatz eine besondere Lage haben. Wir mussten die Sonderkommission Schwarzer Block gründen, und auch die parlamentarische Aufarbeitung bindet viele Ressourcen. Wenn man etwa 200 Beamte für solche Aufgaben einsetzen muss, hat das auch insgesamt Auswirkungen.

Muss man also mit dem Zustand leben?

Wir haben ja keine Reservebank, von der wir Hunderte Beamte auf das Feld schicken können. Zur Wahrheit gehört auch, dass wir seit 2014 einen Personalaufwuchs im LKA von 2071 auf 2138 haben. Dazu kommt aktuell eine der größten Einstellungsoffensiven der letzten Jahrzehnte.

Wo ist die Lage abseits des Betrugsderzernats brenzlig?

Die Rückstellungen in anderen Bereichen sind nicht annähernd so hoch wie im Betrugsdezernat. Man muss auch sehen, dass wir durch Erfolge bei der Alltagskriminalität viele Rückgänge haben: Die Zahl der Fahrraddiebstähle etwa geht zurück, weil wir eine kleine Ermittlergruppe dafür gebildet und in die richtigen Hehlernester gestochen haben. Beim Thema Wohnungseinbruch machen wir auch große Fortschritte. Insgesamt sind die Rückgänge bei etwa sieben Prozent, also nicht unbeträchtlich. Es gibt aber auch Straftaten, die so geringfügig sind, das man das Verfahren verschlankt und nicht in allen Facetten durchführt.

Der einfache Diebstahl ist also keine Ermittlung wert?

Doch! Das Wichtige bei kleineren Delikten ist doch, dass der Täter soweit wie möglich ermittelt wird, um etwa die gestohlenen Sachen wiederzubeschaffen oder noch zivilrechtliche Ansprüche geltend machen zu können. Das geschieht auch. Dass einige Verfahren anschließend wegen Geringfügigkeit eingestellt werden, ist im Gesetz vorgesehen und keine Entscheidung der Polizei.

Kriminalbeamte kritisieren, dass schwerwiegendere Taten zurückgestellt werden – etwa Beziehungsgewalt und Ausländerkriminalität in einzelnen Dienststellen.

Das sind doch kurzfristige Effekte, auf die wir sogar mit mehr Personal reagieren. Tatsächlich ist es Führungsaufgabe, bestimmte Verfahren zu priorisieren, zum Beispiel, wenn Telefonüberwachungen und Observationen zeitweise erhebliche Kräfte binden. Dagegen sinken gerade die Körperverletzungen. Insgesamt heißt das nicht, dass so zurückgestellte Fälle lange liegen bleiben.

-- Welche Fälle liegen blieben ---

Es gibt aber auch Bereiche, in denen erst ermittelt werden muss, um überhaupt Straftaten aufzudecken – etwa die Organisierte Kriminalität (OK). Laut Gewerkschaft liegt die Abteilung brach.

Mitnichten. OK-Bekämpfung ist insgesamt eine Frage von Prioritätensetzungen. Wenn man aktuell in Bereichen wie der Terrorismusbekämpfung einen außerordentlichen Bedarf hat, muss man das Personal kurzfristig irgendwo wegnehmen. Dann muss sich auch eine solche Abteilung verändern. Eine bestimmte Größenordnung zur OK-Bekämpfung ist notwendig und wird es bei uns auch immer geben.

Was unternehmen Sie, um die Situation insgesamt zu verbessern?

Wir haben in der gesamten Polizei eine ganze Reihe von Maßnahmen auf den Weg gebracht. Deshalb überrascht mich der Zeitpunkt der Kritik etwas. Wir treiben Gesundheitsmanagement, Telearbeit und viele andere Maßnahmen voran, verringern damit gerade den Krankenstand. Wir werden bald über 50 neue Angestellte im Landeskriminalamt haben, und wir haben unsere Ausbildungsoffensive noch einmal verstärkt. Wir werden in fünf Jahren netto trotz der vielen Pensionierungen 500 Beamte mehr als heute im Vollzug beschäftigen. Unsere Kollegen kommen aber nicht aus dem 3-D-Drucker, Auswahl und Ausbildung dauern vier Jahre. Das lässt sich nicht weiter beschleunigen.

Die einzelnen Sachbearbeiter wollen aber wissen, welche Bereiche sie vernachlässigen sollen, bis die neuen Kollegen da sind.

Dafür haben wir hervorragende Führungskräfte. Es gilt doch jetzt, eine Zeit lang die Ärmel hochzukrempeln und sich durch diese Situation durchzuarbeiten. Wir schauen aber weiter darauf, wie es kurzfristig noch Entlastungen für die betroffenen Beamten geben kann. Mein Fokus liegt immer darauf, das Machbare zu bewegen, anstatt einen Zustand zu beklagen.

Was ist denn bewegbar, wenn es kurzfristig kein weiteres Personal gibt?

Die Einstellung der neuen LKA-Angestellten und Maßnahmen zum Krankenstand wirken jetzt schon. Am Thema Entlastung arbeiten LKA und Staatsanwaltschaft gemeinsam. Im Bereich der Schutzpolizei haben wir etwa eine vorgeschriebene Skizze zu kleineren Verkehrsunfällen abgeschafft, um 15 bis 20 Minuten pro Vorgang zu sparen. So etwas geht auch bei der Kriminalpolizei, dazu laufen die Beratungen. Man kann sich etwa fragen, ob in Fällen einer Massenschlägerei mit vielen Beteiligten immer Vernehmungen aller Personen nötig ist oder schneller entschieden werden kann.

Im Alltag klappt die Zusammenarbeit zwischen Polizei und Staatsanwaltschaft häufig nicht besonders gut: In einem Fall hat eine Kinderbuchautorin dokumentiert, wer ihre Identität für Internetkriminalität missbraucht hat – und dann bekommt sie einen Brief, das Verfahren sei eingestellt worden, weil die Täterin unbekannt sei.

Ich kenne den Fall. Es gab dort leider wechselnde Sachbearbeiter, wodurch etwas durcheinander gekommen ist. Das ist sicher kein Ruhmesblatt gewesen. Wir müssen generell immer wieder schauen, verschiedene Straftaten in einem Verfahren möglichst schnell zu bündeln. Mittlerweile wurde die mutmaßliche Täterin in dem angesprochenen Fall aber dingfest gemacht.

Würden Sie sich eigentlich wünschen, Massendelikte wie das Schwarzfahren als Polizei nicht mehr verfolgen zu müssen?

Natürlich bedeutet jeder Fall auch eine Akte, selbst wenn die Ermittlungen sehr schlank gehalten werden. Beim Schwarzfahren kommt es in den seltensten Fällen zu einer Anklage – daher wäre es sinnvoll, über einen alternativen Umgang mit diesem Vergehen nachzudenken. Dies in den Bereich einer Ordnungswidrigkeit zu verlegen, um die Beamten zu entlasten, will genau überlegt sein. Eine Geldbuße kann sicher wirkungsvoller sein als ein eingestelltes Strafverfahren.

Fälle, die zuletzt ohne Lösung verliefen:

Wer Opfer einer Straftat wird, hofft auf schnelle Hilfe der Strafermittler. Doch in der Realität kommt es in einigen Fällen anders – nicht nur wegen einer möglichen Überlastung.

Eine Auswahl von Fällen der jüngeren Zeit:

Überfall auf Jugendliche ungeklärt: Zwei Fünfzehnjährige und ein 18-Jähriger sind am 18. Juli spätnachts bei der Vorstellung der neuen CD von 187 Straßenbande im Media Markt Altona. Eigentlich keine Zeit für Minderjährige, aber es ist einer der letzten Schultage vor den Ferien. Der 18-Jährige parkt das Auto in der Straße Am Felde in Ottensen. Drei junge Männer gehen plötzlich hinter ihnen her, fragen sie erst, ob sie gemeinsam Gras rauchen wollten. Die Jugendlichen lehnen ab. Wenig später verlangen die anderen Geld. Sollten sie nichts rausrücken, werde das „böse“ enden. Die Jugendlichen rücken daraufhin jeder 10 Euro heraus. „Sie sind abgezogen, und wir haben die Polizei gerufen“ , sagt der 15-Jährige. Gemeinsam mit den Polizisten fahren sie dann im Streifenwagen herum, um die Täter möglicherweise noch aufzuspüren. Vergeblich. Auf dem Polizeirevier 16 werden schließlich ihre Aussagen aufgenommen; sie versuchten, die Täter auf dem Computer zu identifizieren, finden aber niemanden.

Kinderbuchautorin betrogen: Ursel Scheffler ist mit ihrem „ Kommissar Kugelblitz“ weltweit erfolgreich – als ihr im Herbst 2016 eine Frau in der Kirche ihre Brieftasche stiehlt und auf ihren Namen im Internet Schmuck und andere Waren bestellt, macht sie die Täterin schnell ausfindig: Rebecca H. hat die Einkäufe nach der Betrügerei an ihre Wohnadresse liefern lassen. „Ich dachte, damit wäre der Fall bald gelöst. In meinen Büchern wäre er das jedenfalls“ , sagt Ursel Scheffler damals dem Abendblatt. Doch stattdessen erhält sie bald einen Brief, dass das Verfahren eingestellt wurde – die Täterin sei nicht zu ermitteln. Die Bestellungen auf Schefflers Namen gehen jedoch weiter. Und für jede neue Lieferung an Rebecca H., die die Autorin zur Anzeige bringt, erhält sie ein neues Aktenzeichen. Ursel Scheffler schreibt einen Brief als „Kommissar Kugelblitz“ an die Staatsanwaltschaft, erst im März 2017 kommt Bewegung in die Sache – Rebecca H. werde wegen Betrugs in einem anderen Fall und wegen einer der Bestellungen im Namen von Ursel Scheffler angeklagt, erfährt das Abendblatt. Offenbar waren die Verfahren nicht richtig zusammengefasst worden, auch Polizeipräsident Ralf Martin Meyer sieht den Fall als „kein Ruhmesblatt“ (siehe oben).

Betrug mit Rollerteilen: Dass Opfer von Betrügereien Nerven brauchen, zeigt sich auch für Volker S., der einem dreisten Anbieter für Motorroller auf den Leim ging. Teile für 280 Euro, ein Gepäckträger und Sturzbügel, die er bereits Anfang des Jahres geordert hat, kommen nicht. Nach erfolglosen Versuchen, Teile oder Geld zurückzubekommen, geht er zur Polizei. „Vorher war ich dreist am Telefon zurückgewiesen worden.“ Auf ­E-Mails oder auch Einschreiben mit Rückschein reagiert der Verkäufer gar nicht. „Ich hab erst im Nachhinein festgestellt, dass der Anbieter sehr schlechte Kritiken bekommen hat und ich kein Einzelfall bin.“ Am 25. Juli erstatte er beim Polizeikommissariat 14 an der Caffamacherreihe in der Innenstadt Anzeige. Dann ist, wie schon beim Roller-Verkäufer aus Bayern, Warten angesagt. Erst ein Vierteljahr nach der Anzeigenerstattung kommt eine erste Reaktion von der Kripo. „Per E-Mail wurde nach den Kontodaten gefragt, auf die ich das Geld überwiesen habe“, sagt der Geprellte.