Rahlstedt. Keine Klassen, kein Stundenplan, kaum Regeln: Vor zehn Jahren gründete die Sängerin ein pädagogisches Experiment. Besuch vor Ort.
Wer die „Neue Schule Hamburg“ im Schimmelreiterweg am Stadtrand von Hamburg betreten möchte, muss erst mal die Schuhe ausziehen. Mit den Straßenschuhen lässt der Besucher gleichzeitig auch alle seine eigenen Vorstellungen von Schule und die Erinnerungen an die eigene Schulzeit vor der Tür. Denn in der weiß getünchten dreistöckigen Altbauvilla gibt es weder feste Klassen noch Klassenräume, keinen festen Stundenplan, keine festen Pausenzeiten, keinen klassischen Frontal- oder Gruppenunterricht und Schulnoten schon gar nicht. Lehrer heißen nicht Lehrer, sondern Mitarbeiter.
Dafür rennt, läuft, rutscht, klettert jetzt ein großer Teil der insgesamt 85 Schülerinnen und Schüler im Alter zwischen sechs und 16 Jahren auf Strümpfen durchs Haus. Andauernd klappen irgendwo Türen auf und zu; die einen verkrümeln sich mit einem iPad in die Bibliothek, andere lümmeln sich mit einem Buch auf einer Couch; ein Zehnjähriger spielt im „Großen Saal“ Klavier auf dem rot lackierten Konzertflügel; in einem Gruppenraum spielen drei kleine Mädchen Kaufmannsladen. Das Mobiliar sieht, vorsichtig ausgedrückt, „strapaziert“ aus, aber das spielt in der „Neuen Schule Hamburg“ anscheinend keine Rolle. Genauso wenig wie teure Markenklamotten. Etwa zwei Dutzend Schüler toben draußen im Garten um die Villa herum, bewerfen sich mit dem ersten Herbstlaub oder spielen Basketball. Mit Schuhen natürlich.
Bio-dynamisch-vegetarisch und gesund
Die private „Neue Schule Hamburg“ (NSH) hat von der Schulbehörde längst den Status einer ganztägigen Stadtteilschule erhalten. 170 Euro kostet ein Schulplatz pro Monat, hinzu kommen 56 Euro fürs Essen sowie 28 Euro für Lehrmittel. Das vegetarische Mittagessen ist gerade vorbei. Köchin Antje, eine latent burschikos und zupackend wirkende Mittvierzigerin mit Kopftuch und einem ebenso freundlichen wie zufriedenen Lächeln auf dem Gesicht, räumt unten im Souterrain die Profi-Küche auf. Früher hat die Sozialpädagogin Biker-Events organisiert und nebenbei für die harten Jungs gekocht. „Klar kann ich auch Fleisch grillen“, sagt sie, „aber wir kochen hier nun mal bio-dynamisch-vegetarisch und gesund. Außerdem ist für die Küche das Verarbeiten von Gemüse und Obst auch sehr viel einfacher.“ Das Schulessen wurde bereits prämiert, es gilt als vorbildlich – und es fällt auf, dass kein einziges Kind Anzeichen von Übergewicht mit sich herumschleppt.
Nena hat zwei Kapitel beigesteuert
„Uns gibt es jetzt schon zehn Jahre“, sagt Philipp Palm und blinzelt vergnügt in die Runde der Mitautoren, die um einen großen quadratischen Holztisch herumsitzen und schlammfarbene Dinkelkekse knabbern, „man könnte also sagen, dass wir wohl nicht alles falsch gemacht haben“. Palm, der sein Gesicht hinter einem zauseligen Vollbart versteckt, ist Nenas Lebenspartner, Musikproduzent und Mitbegründer der NSH. Neuerdings ist er auch Verleger, denn zum zehnjährigen Jubiläum haben Gründer, Mitarbeiter, Eltern und Schüler gemeinsam ein Buch geschrieben, in dem sie die praktische Arbeit an „ihrer“ Schule und die Philosophie, die hinter der NSH steckt, mehr oder weniger kritisch reflektieren – auch für all diejenigen, die aus erster Hand ungeschminkt erfahren möchten, „warum die NSH ein lebendes Beispiel dafür ist, dass es auch anders geht“, schreibt Nena.
Der Titel des Gemeinschaftswerks („Werden? – Ich bin doch schon!“) klingt zwar nach beinharter Kuschelpädagogik, aber es wäre zu einfach, diese radikale Schulform, die konsequent auf die individuelle Freiheit, ein demokratisches Miteinander sowie auf diverse Komitees anstatt auf Klassenbücher setzt, als sozialpädagogisch-esoterischen Mumpitz abzutun, bei dem vordergründig nur geregelt ist, dass eben nichts geregelt ist. Also so eine Art antiautoritärer Kinderladen 3.0 für den hyperaktiven Nachwuchs, der in „normalen“ Bildungseinrichtungen scheitern würde oder bereits mehrmals gescheitert ist.
Schule musste viel Kritik einstecken
Nena, die als Gründerin der NSH zum Jubiläumsbuch zwei Kapitel beigesteuert hat, ist persönlich nicht anwesend, aber das ist vermutlich beabsichtigt: Schließlich ist ihre Schule der Star; ihr Traum, den sie sich – auch für ihre eigenen Kinder – erfüllt hat. 2003, vier Jahre vor der Gründung der NSH, sagte sie in einem Interview der Zeit: „Ich möchte einen Ort schaffen, an den jederzeit Kinder kommen können, um sich neue Impulse zu holen, sich auszuprobieren (...) Eine Oase, einen großen schönen Ort, wo alles anders ist. Einen Ort ohne Zwänge.“
Das radikale Konzept kam nicht überall gut an; die ersten Jahre waren schwer. Die Privatschule wurde von vielen Seiten kritisiert: Nachdem 2008 Beschwerden bei der Schulbehörde eingegangen waren und Eltern ihre Kinder enttäuscht wieder abmeldeten, versah man die Schule mit strengen Auflagen. Der weitere Betrieb wurde nur genehmigt, wenn die Schule sehr viel genauer den Leistungsstand der Schüler ermittelt und zielgerichtete Konzepte entwickelt, wie Lücken aufgefüllt werden können, hieß es damals.
Erwachsene und Schüler immer auf Augenhöhe
Birgit Heidenreich, Mitautorin und Mutter von zwei Töchtern, die ebenfalls die NSH besuchen, sagt: „Diese freie Schulform hat unser Familienleben extrem positiv bereichert. Meine Töchter gehen jetzt wahnsinnig gerne zur Schule, denn sie lernen eben genau das, was sie lernen wollen – mit Begeisterung, ohne Leistungsdruck oder Angst, nicht versetzt zu werden. Das zählt.“ Darüber hinaus sei es schlichtweg falsch zu glauben, dass an der Schule „nichts geregelt sei“, fügt Sarah Alexi hinzu, eine der acht pädagogischen „Lernimpuls-Geberinnen“ an der NSH und ebenfalls Mitherausgeberin: „Unser gemeinschaftliches Zusammenleben an der NSH gestalten wir in demokratischer Weise selbst. Die Erwachsenen und die Schüler handeln und reden dabei immer auf Augenhöhe – gleichberechtigt. So ist auch unser ,Goldenes Regelbuch’ entstanden, das wir ständig pflegen und erneuern.“
Die ersten Schüler der NSH haben ihren Hauptschulabschluss inzwischen bestanden. Die Prüfung wird extern abgehalten. „Einige andere stehen bereits kurz vor der mittleren Reife“, sagt Sarah Alexi, „das ist dann die nächste Hürde, mit der wir beweisen werden, dass unser pädagogisches System im schulischen Leistungsvergleich mithalten kann.“
Am großen Tisch in der Rahlstedter Villa käme niemandem in den Sinn, daran zu zweifeln.