Hamburg. In Neuengamme pflegt ein Club die Tradition des Rauchens. Jetzt richtet er erstmals die deutschen Titelkämpfe aus.
„Es darf gestopft werden“, sagt Karsten Witthöft und wirft die Schachuhr an. Die sechs älteren Herren am Tisch öffnen auf das Kommando eine kleine Packung und ziehen den Tabak heraus, exakt drei Gramm sind es für jeden. Fünf Minuten Zeit bleiben jetzt, um ihn zu bearbeiten: ihn sorgfältig zu kneten, zu zupfen, zu zerkleinern. Dann muss er in der Pfeife verstaut sein.
Wie immer am ersten Freitag im Monat hat sich der harte Kern des Pfeifenclubs Gemütlichkeit in einem Nebenraum von Kücken’s Gasthof am Neuengammer Hinterdeich zum Trainingsrauchen versammelt, aber dieser September wird kein ganz normaler Monat. An diesem Sonnabend wird gleich nebenan im Club- und Ballhaus die deutsche Meisterschaft im Pfeifelangsamrauchen stattfinden. Anlässlich seines 125-jährigen Bestehens hat der „Piepenclub“, wie die Mitglieder ihn nennen, die Ausrichtung übernommen, zum ersten Mal überhaupt. Es wird der vielleicht größte Tag der Vereinsgeschichte, und er will vorbereitet sein.
„Feuer frei!“, sagt Witthöft. Wieder tickt die Uhr. Binnen 60 Sekunden muss der Tabak brennen. Wem zwei Zündhölzer dafür nicht ausreichen, der hat bereits verloren. Diesmal hat jeder der sechs Herren eine eigene Pfeife mitgebracht. Günstige Exemplare gibt es bereits für zehn Euro, man kann aber auch problemlos einen dreistelligen Betrag ausgeben.
In den ersten zehn Minuten herrscht Trinkverbot
Bei der Meisterschaft wird es für die Teilnehmer eine fabrikneue Pfeife geben, ein Einheitsmodell, der Chancengleichheit wegen. Ein Hersteller hat sie kostenlos zur Verfügung gestellt. Genauso ist es beim Tabak. Hier sind die Unterschiede am größten, je nach Feuchtigkeit und Konsistenz.
Im vergangenen Jahr bei den deutschen Meisterschaften in Bremen hätten sie ihnen ein Kraut vorgesetzt, das sich angefühlt habe wie gepresster Kautabak. „Da waren fünf Minuten Vorbereitung fast zu wenig“, sagt Heiner Borstelmann (61), der Vorsitzende des Piepenclubs. Der diesjährige Wettkampftabak, „Clubtabak Grün“, gefällt deutlich besser. Klar, dass sie sich eine Dose davon bestellt haben, um schon einmal auf den Geschmack zu kommen.
120 Teilnehmerinnen und Teilnehmer werden erwartet, aus Köln und aus Aachen, aus Arnsberg, Großschwarzenlohe in Franken und Wriezen in Brandenburg. Seit 1973 veranstaltet der Verband Deutscher Pfeifenraucher diese Meisterschaften. Die Hamburger machen erst seit einigen Jahren offiziell mit, nachdem der VDP davon abgerückt ist, die Beiträge nach der Mitgliederzahl zu bemessen. Jetzt zahlt jeder Club eine Pauschale von 40 Euro im Jahr.
186 Mitglieder zählt der Piepenclub aktuell und gehört damit zu den größten seiner Art in Deutschland. Mittlerweile treten die wenigsten wegen der Pfeifen bei, allenfalls 20 rauchen aktiv. Allen anderen geht es in erster Linie darum, unter Leute zu kommen, eben dazuzugehören. Bei der Feuerwehr kannst du sein, im Schützenverein darfst du sein, aber im Piepenclub musst du sein, sagen sie hier draußen in den Vierlanden.
Von ihrem Verein bekommen die Mitglieder geboten, was ein Verein auf dem platten Land eben so zu bieten hat. Es gibt ein Kinderfest und eine Fahrradtour, es gibt einen Boßelausflug, den Herrenabend mit Kegeln, Preisskat und den Grillabend. Aufnahmeanträge werden nur einmal im Jahr entgegengenommen, und jedes neue Mitglied braucht einen Fürsprecher oder Bürgen.
„Egal, ob Raucher oder Nichtraucher, bei uns ist jeder willkommen“, sagt der Vorsitzende Heiner Borstelmann. Jeder ja, aber nicht jede. Weibliche Mitglieder lässt die Satzung nicht zu. Irgendwann haben die Frauen deshalb ihren eigenen Club gegründet: die „Gemütliche Pfeife“. Immer am ersten Februarwochenende wird nun geschlechterübergreifend um die Wette gepafft, und der Sieger bekommt den Gustav-Pape-Pokal, benannt nach dem ersten norddeutschen Meister des Clubs.
Wolldecke im Mund
Aus den sechs Pfeifen steigt inzwischen dichter Qualm auf und vernebelt allmählich den Raum. Vor jeden Raucher hat Wirt Hans-Dirk Hahn ein Glas Bier platziert. „Pfeife rauchen und nichts trinken, das passt irgendwie nicht“, sagt Thorsten Jacobsen. Aber so sind nun einmal die Regeln: In den ersten zehn Minuten des Wettkampfs herrscht absolutes Trinkverbot. Es könnte ja jemand auf die Idee kommen, den Tabak zu befeuchten. „Nach den zehn Minuten hast du das Gefühl, eine Wolldecke im Mund zu haben“, sagt Jacobsen.
Er stammt wie die meisten Mitglieder aus der Gegend. Inzwischen lebt er in Wentorf, genau wie Jürgen Engel, der neben ihm sitzt. Dem Heimatverein ist er treu geblieben, auch wenn das Pfeiferauchen auf dem Rückzug ist und es inzwischen schier grenzenlose Möglichkeiten gibt, es sich anderweitig gemütlich zu machen.
Zähe Anfangsphase
Die zähe Anfangsphase ist überstanden, endlich darf getrunken werden. In jeder der sechs Pfeifen glimmt jetzt ein kleines Büschel Tabak vor sich hin. Es wird gepafft, tiefe Lungenzüge tut sich keiner an. Die Kunst ist, die Glut so schwach wie möglich zu halten, ohne dass sie ausgeht, und sie gleichmäßig durch die Pfeife kreisen zu lassen. Man darf dafür einen Holzstopfer, Durchmesser zwölf Millimeter, benutzen oder auch die Pfeife ankippen.
Vor allem gilt es Fehler zu vermeiden. Und davon kann man viele machen: zu fest stopfen, zu wenig ziehen – oder auch zu viel reden. Borstelmann muss dem Abendblatt heute viel erklären, seine Pfeife erlischt als Erste, da ist kaum eine halbe Stunde vorbei. „Aus!“, sagt er. Im Wettkampf müsste er jetzt den Tisch verlassen.
Rauchen als Sport? Schachuhr und Gemütlichkeit? Borstelmann findet, dass das keine Widersprüche sind: „Es wird ja nicht gegen die Uhr geraucht, sondern mit der Uhr.“ Für einen Klönschnack, gern auch op Platt, sei immer Zeit. Nur beim Wettkampf, da sei es mitunter mucksmäuschenstill.
Vor zehn Jahren richtete der Piepenclub erstmals die norddeutschen Meisterschaften aus. Damals kamen 60 Teilnehmer an den Neuengammer Hinterdeich. Draußen war die Luft an die 30 Grad warm, drinnen zum Schneiden. Fenster und Türen mussten geschlossen bleiben, so will es die Vorschrift. Das Raumklima war selbst für die Kameras des NDR zu viel, sie fielen aus.
Nach und nach verglühen auch die anderen Pfeifen. Klaus Ludanek trägt die erreichten Zeiten in ein Heft ein, in dem alle Ergebnisse protokolliert sind. Als Vorletzten erwischt es Dirk Hofmann. Damit steht Karsten Witthöft als Tagessieger fest. Seine Zeit: 62 Minuten.
Weltrekord liegt bei mehr als dreieinhalb Stunden
„Alles, was um eine Stunde ist, ist schon sehr gut“, sagt Borstelmann. Aber es geht auch deutlich länger. Den Vereinsrekord hält Rudi Geringhoff: 132 Minuten. Der Weltrekord liegt sogar bei 3:33:06 Stunden. Aufgestellt hat ihn der Italiener Gianfranco Ruscalla vor neun Jahren bei der EM in Würselen, der Heimatstadt von Martin Schulz. Der SPD-Kanzlerkandidat hatte damals als Schirmherr fungiert.
Schulz’ Partei wurde durch Pfeife rauchende Köpfe geprägt, durch Herbert Wehner allen voran, aber auch durch Peter Struck und Hans-Ulrich Klose, den früheren Hamburger Bürgermeister. Es war eine Zeit, in der Rauchen noch als Lust und nicht als Laster durchging, als Genuss galt und nicht nur als Gefahr. Inzwischen ist der blaue Dunst weitgehend aus dem öffentlichen Raum verbannt, man weiß ja um die Risiken und Nebenwirkungen. Der Titel „Pfeifenraucher des Jahres“, vom Lobbyverband Tabakforum seit 1969 an prominente Paffer wie Günter Grass und Helmut Kohl verliehen, blieb zuletzt vakant. Den Pfeiferauchern weht der Wind der gesellschaftlichen Ächtung ins Gesicht. Neuerdings werden auf Partys bärtige Großstadt-Hipster mit Pfeife gesichtet. Aber das ist wohl nur so eine Mode.
Im Piepenclub lassen sie sich von alldem nicht beirren. Viele sind privat selbst Nichtraucher. Aber sie halten die Tradition am Glimmen, die Ende des 19. Jahrhunderts begründet wurde, genau hier im Kücken’s, einer urigen Kneipe in Familienbesitz, dem wohl ältesten Treffpunkt des Stadtteils. An der Wand des Hauptraums erinnern Fotografien an die Anfänge. Nebenan im Club- und Ballhaus sind Pokale und Banner in einer Vitrine ausgestellt. Besonders stolz ist Clubchef Borstelmann auf die Raritäten: eine Regimentspfeife aus dem Jahr 1871 und eine afrikanische Kürbispfeife.
Hoffen auf die Mannschaftswertung
An diesem Sonnabend soll ein neuer Pokal dazukommen. Für den Einzeltitel wird es wohl nicht reichen, dafür ist die Konkurrenz zu stark. In der Mannschaftswertung aber, für die je vier Einzelergebnisse addiert werden, rechnen sich die Neuengammer Chancen aus.
Doch eigentlich, sagt Borstelmann, gehe es in seinem Verein um etwas anderes: um die Geselligkeit, das Miteinander. „Wenn ein Mitglied in Not ist, kommen alle Piepenbröder zum Helfen.“ So sei das immer gewesen. Dann verabschiedet er sich. Der Wettkampf ist für heute beendet. Aber der Abend hat gerade erst angefangen.