Hamburg. Die bundesweit erste Anlaufstelle in Billstedt informiert mehrsprachig über Gesundheit, Ärzte und Pflege. Neue App für Patientendaten.

Dr. Gerd Fass (54) arbeitet in einer Praxis in Mümmelmannsberg. Mitten im Leben, wie es bunter nicht kommen kann – selbst für einen Chirurgen und Orthopäden, der schon Tausende Patienten behandelt hat. Und so erzählt Fass die Geschichte von der „Oma“, die sich ein Bein gebrochen hat, zur Krankengymnastik sollte, aber eben auch einen Freund hat, der schon leicht dement ist und so das Thema Kurzzeitpflege für das Paar plötzlich dringend wird.

Doch Fass sitzt in seiner Praxis, sieht 70 bis 100 Patienten am Tag und kommt oft über ein „Wie geht’s?“ und „Haben Sie die Überweisung dabei?“ nicht hinaus. Das bedauert er zutiefst. „Ich sage vielen Patienten: Machen Sie die Physiotherapie, nehmen Sie Ihre Tabletten gegen die Schmerzen – und am Wochenende gehen die doch in die Notaufnahme ins Krankenhaus. Dann haben wir im Gesundheitssystem alle aktiviert und für den Patienten nichts erreicht.“

Gesundheitskiosk an sechs Tagen geöffnet

Das soll sich mit dem deutschlandweit ersten Modellprojekt „Gesundheitskiosk“ in Billstedt (Möllner Landstraße 18) jetzt ändern. In dem kleinen Laden direkt am Einkaufszentrum beraten jetzt sechs Mitarbeiter montags bis freitags von 8 bis 18 Uhr und sonnabends von 10 bis 16 Uhr kostenlos Patienten, um ihnen den Weg durch Behandlungen, Reha und Pflege zu weisen.

Der Service auf Initiative von Ärzten, Krankenkassen und Gesundheitssenatorin Cornelia Prüfer-Storcks (SPD) wird in mehreren Sprachen angeboten. Darunter sind unter anderem Englisch, Türkisch, Polnisch und Russisch, aber auch Dari und Farsi.

Zu wenige Ärzte in Billstedt/Horn

Mehr als die Hälfte der 108.000 Bewohner (53 Prozent) hier hat einen Migrationshintergrund, hamburgweit sind es rund 30 Prozent. Jeder dritte Haushalt mit Kindern hier wird von Alleinerziehenden geleitet, im Hamburg-Durchschnitt ist es nur jeder vierte.

In Billstedt/Horn kommen doppelt so viele Einwohner auf einen Arzt wie in anderen Stadtteilen. Es gibt eine regelrechte Abwanderungsbewegung, weil sich Praxen in Gegenden mit kaum oder keinen Privatpatienten für die Ärzte nicht mehr rechnen.

Gleichzeitig sind die Menschen hier häufiger und schwerer krank. Wie Vorstand Matthias Mohrmann von der AOK Rheinland/Hamburg sagte, sei es erwiesen, dass Menschen in ärmeren Stadtteilen rund zehn Jahre früher an Diabetes, Asthma, Herz- oder Lungenleiden erkranken.

Oft geht es nur um Übergewicht und das Rauchen

In Billstedt/Horn gebe es auch deutlich mehr Fälle von Depressionen. Psychische Erkrankungen gehören zu den häufigsten Ursachen für Fehlzeiten im Job. Und das Krankengeld ist einer der Kostentreiber im deutschen Gesundheitswesen.

Für die Krankenkassen – auch die Barmer ist in dem Projekt engagiert – ist es langfristig günstiger, hier in die Prävention und die Beratung zu investieren, als teure chronische Krankheiten zu bezahlen. Wie Dr. Fass sagte, gehe es bei vielen Patienten häufig ganz banal darum, das Übergewicht zu reduzieren oder mit dem Rauchen aufzuhören.

Gesundheitssenatorin Cornelia Prüfer-Storcks (SPD) sagte, die soziale Lage in einem Stadtteil und die Neigung zu Krankheiten hingen zusammen. Außerdem arbeiteten niedergelassene Ärzte, Krankenhäuser und die Pflege zu wenig zusammen. Aus dem Innovationsfonds der Bundesregierung (300 Millionen Euro, davon 225 Millionen für die Versorgung und 75 Millionen für die Forschung) habe man für drei Jahre 6,3 Millionen Euro für das Gesamtprojekt rund um den Gesundheitskiosk bekommen. „Wir gehen hier in Billstedt neue Wege“, so Prüfer-Storcks.

Neue App überträgt Patientendaten

Vor und nach einem Besuch beim Arzt oder im Krankenhaus können sich die Patienten an den Gesundheitskiosk wenden. Für den Chirurgen Dr. Fass eine sinnvolle Lösung, denn „wir sind alle überlastet, und hier hat der Patient einen Kümmerer“. Schon wegen der Bürokratie in einer Praxis hätten die Ärzte immer weniger Zeit dazu.

Mit einer App („LifeTime App“) sollen künftig noch in der Praxis Arztbriefe und Hinweise über Medikamente den Patienten direkt und mutmaßlich sicher auf das Handy gespielt werden können. Dadurch werden die fehlenden und zum Teil veralteten Anwendungen des Milliardenprojekts elektronische Gesundheitskarte technisch überholt.

Das Prinzip Gesundheitskiosk fußt auf dem finnischen „Terveyskioski“. Auch in den USA finden sich vergleichbare Einrichtungen, in denen in Supermärkten oder Drogerien über medizinische Behandlungen beraten wird.

Das Universitätsklinikum Eppendorf unterstützt das Projekt ebenfalls, wie Prof. Martin Scherer vom Institut für Poliklinik und Allgemeinmedizin sagte. „Der Gesundheitskiosk ist ganz bewusst dort angesiedelt, wo sich der Alltag der Menschen abspielt und wo der Versorgungsbedarf hoch ist.“ Die Billstedter Einrichtung wird wissenschaftlich begleitet.

Der UKE-Forscher, der zuletzt eine Studie über die Patienten in norddeutschen Notaufnahmen gemacht hat (das Abendblatt berichtete), setzt darauf, dass der Gesundheitskiosk die Praxisärzte und die Ambulanzen der Hamburger Krankenhäuser entlastet.