Hamburg. 4000 Vorstellungen sang Franz Grundheber, davon 2400 allein an der Hamburger Staatsoper. Eine Begegnung in seinem Haus in Rissen.

So etwas nennt man wohl Ausstrahlung. Franz Grundheber braucht nichts zu tun. Er braucht nicht die Arme auszubreiten oder beim Sprechen zu knödeln, wie es sich mancher Sänger auch abseits der Bühne nicht verkneifen kann. In Sandalen und weitem Hemd steht er an einem der seltenen warmen Abende dieses Jahres in seinem Rissener Garten und zeigt auf ein Häuschen am anderen Ende des Rasens, das er vor Jahrzehnten gebaut hat. „Ich brauchte Ruhe zum Arbeiten“, sagt er, und fast klingt es, als müsste er sich dafür entschuldigen, dass er diese Ruhe im wuseligen Familienhaus nicht immer fand.

Wer zählt die Opernarien, mit denen Grundheber die Wände imprägniert hat? Das Studierhäuschen unter den 13 alten Eichen ist die Basisstation einer Weltkarriere, die den Bariton an Häuser vom Rang einer New Yorker Met, Wiener Staatsoper und Pariser Opéra de la Bastille führte. Etwa 4000 Opernvorstellungen hat er in seiner fünf Jahrzehnte umspannenden Karriere gesungen, davon rund 2400 allein an der Hamburgischen Staatsoper, an die ihn 1966 der sagenumwobene Intendant Rolf Liebermann holte. Es war Grundhebers erstes Engagement, 22 Jahre war er Ensemblemitglied und sang danach regelmäßig als Gast. Seine Hamburger Paraderolle ist der Vater aus „Hänsel und Gretel“ von Humperdinck. Er ist Kammersänger und Ehrenmitglied der Staatsoper.

Grundheber wirkt fröhlich und zugewandt

Am 27. September wird er 80 Jahre alt. Wer Grundheber trifft, möchte es nicht glauben. Aus der üppigen Haarkrause ist die Farbe längst nicht gewichen. Fröhlich wirkt Grundheber und seinem Gegenüber auf eine zeitlose Art zugewandt. Er erzählt und parodiert mit sichtlichem und hörbarem Vergnügen. „Sprecht leise! Haltet euch zurück! Wir sind belauscht mit Ohr und Blick“, zitiert er den zweiten Gefangenen aus Beethovens „Fidelio“, eine seiner frühen Minirollen – und die gespannte Vorsicht des Gefangenen liegt nicht nur in der abgedunkelten Stimme, sie zeigt sich in seinem Mienenspiel und einer Gebärde, die nicht groß ist, aber von einem Zeitgefühl, dass sie mühelos eine Bühne füllen könnte.

Verdis „Simone Boccanegra“, Wagners „Fliegenden Holländer“, Bergs „Wozzeck“, Grundheber hat sie alle gesungen. 150 Rollen hat er in seinem Opernleben verkörpert. Kleine, wichtige, tragende. Doch er singt seine Rollen nicht einfach, er hinterfragt sie. „Schauen Sie sich Scarpia an“, sagt er über den Folterer und Polizeichef aus Puccinis „Tosca“. „Warum ist er so böse? Kein Mensch ist einfach so böse, es gibt immer einen Grund.“ Diese Beweggründe spürt Grundheber auf, wie auch umgekehrt die Sympathieträger bei ihm nicht schlicht und einfach gut sind. Er leuchtet in die Winkel und Abgründe. Es ist die psychologische Differenzierung, die seinen Figuren Plastizität, ja Lebensgröße verleiht; dazu dienen ihm Atem und Phrasierungskunst und ein balsamischer Stimmklang. Noch Anfang des Jahres schwärmte die „Welt“ anlässlich Grundhebers Elbphilharmonie-Debüt von „raumgreifender, hirnerschütternder, flammender Präsenz“, die „Neue Zürcher Zeitung“ von „Dringlichkeit“.

Mozarts „Zauberflöte“ veränderte sein Leben

Eine Karriere wie Grundhebers wird niemandem an der Wiege gesungen. Aber in seinem Fall war schon die Entscheidung für einen künstlerischen Weg unerhört. Grundheber stammt aus den sprichwörtlichen einfachen Verhältnissen. Die Eltern schickten den Sohn aufs Gymnasium. Seine Lehrer pflanzten ihm eine tiefe Liebe zu Kunst und Literatur ein – und mit 18 Jahren bekam er eine Karte für Mozarts „Zauberflöte“ im Theater Trier geschenkt. Der Abend sollte sein Leben verändern.

„Eigentlich saß ich ziemlich gelangweilt in der Aufführung“, sagt er. „Bis zum Auftritt des Sarastro. Das war ein fantastischer Bass. Ich hatte das Gefühl, ich fühle diese Stimme über 60 Meter Entfernung in meinem Körper.“ Um den überwältigenden Eindruck vorzuführen, schmettert er ein gut gestütztes „Ha!“ in die Abendstille und schlägt sich die Hand vor den Mund, als wäre er wieder der junge Mann, der nachts im heimischen Zimmer erstmals seine Stimme ausprobierte. Der Vater schlug von nebenan an die Wand und bat um Ruhe. Doch den Schüler Franz ließ das Singen nicht mehr los.

Zwei Jahre studierte Grundheber in den USA

Der Sohn eines Drehers wird Opernsänger, das war im kleinen Biewer unvorstellbar. Grundheber aber erkämpfte sich seine Gesangsausbildung. Er ging zur Bundeswehr, wurde in Hamburg stationiert – und ausgerechnet der Sänger des Trierer „Sarastro“ verschaffte ihm Stipendien. Zwei Jahre lang studierte Grundheber an der Indiana University in Bloomington/USA. Die Professorin Margaret Harshaw ist seine einzige Lehrerin geblieben.

Fast. Zum einen spricht Grundheber gern von einem gewissen Professor Walkman; bis heute schneidet er jede Aufführung mit und hört sie ab. Zum anderen er ist sich nie zu schade, von anderen zu lernen. So schwärmt Grundheber vom fabelhaften Ensem­ble älterer Sänger, das zu Liebermanns Zeiten in jeder Vorstellung bis in die Nebenrollen für unfehlbare Qualität der Staatsoper sorgte. Einem von ihnen, dem Bariton Mathieu Ahlersmeyer, verdankt er einen wichtigen Rat: „,Warten Sie mit dem schweren italienischen Fach, mit Rigoletto, Macbeth oder Jago, bis Sie über 40 sind‘, sagte er – damals siezten wir uns alle. ,Dann hat sich Ihre Technik so gefestigt, dass Sie Probleme selbst korrigieren können‘“, erzählt Grundheber. „,Und wenn dank dieser Klugheit Ihre Stimme mit über 50 noch funktioniert, dann wissen Sie, wovon Sie singen. Dann haben Sie schon Ehekrisen, Enttäuschungen oder Krankheit erlebt. All das zeigt sich in der Farbe einer guten Stimme. Die Persönlichkeit formt den Klang.‘“

Gastspiel an der Wiener Staatsoper in der kommenden Saison

Auch Grundheber hatte Kurven im Privatleben. Auf die Patchwork-Familie, die er mit seiner zweiten Frau Angelika gebaut hat, hat er sich eingelassen wie auf das Singen. Bei Aufführungen der Waldorfschule wirkte er genauso mit wie bei Kirchenkonzerten der Gemeinde: „Hat man so viel Glück und Erfolg mit dem Singen, sollte man dafür gar nicht bezahlt werden!“

Vor wenigen Wochen noch hat er an der Oper Leipzig den Färber Barak in Strauss’ „Frau ohne Schatten“ gesungen und den Kritiker zu der Beobachtung hingerissen, wenn Grundheber singe, spiele das Alter keine Rolle. Ist 80 das richtige Alter zum Aufhören? „Ach, ich habe schon mit 60 an Abschiedsvorstellungen gedacht“, sagt Grundheber. „Ich habe ja nicht geahnt, dass es noch so lange ginge.“ Von Melancholie lässt er sich nichts anmerken, er sieht die Sache realistisch: „Es ist anstrengend, auf der Bühne präsent zu sein. Man braucht Körperspannung. Singen ist auch eine Frage der Muskulatur, und die lässt im Alter nach.“ Natürlich kennt er als Profi die Schliche, die nachlassende Elastizität auszugleichen. „Ich phrasiere anders“, verrät er, „das setze ich als Ausdrucksmittel ein.“

In der kommenden Saison gastiert er an der Wiener Staatsoper in „Lulu“ von Berg. Den Greis Schigolch wird er diesmal singen – der Einzige der Männer um Lulu, der die Oper überlebt. „Das ist eine gemütliche Rolle“, sagt Grundheber. „Meine letzte Zeile lautet: Wenn jemand nach mir fragt, ich sitze unten im Lokal.“ Wie er dabei die Stimme förmlich in den Keller fallen lässt, sieht man den Alten im Geiste vor sich. Und gleich daneben Franz Grundheber, ganz und gar im Reinen. Mit der Rolle, mit sich und seinen 80 Jahren.