Franz Grundheber ist einer der berühmtesten Baritone der Opernwelt. Heute singt er an der Staatsoper in der “Aida“ seine 2000. Vorstellung.
Hamburg. Siegfried, Alberich, Tannhäuser, Lohengrin - sie wohnen alle in der Nachbarschaft, genauer: Sie geben den Straßen in der Nachbarschaft ihren Namen. Wenn Franz Grundheber, der in seiner unfassbar langen Opernkarriere auch manchen Wagner-Helden gesungen hat, zu Hause in seiner zum Studierzimmer umgebauten Garage steht, das Fenster öffnet und seinen Bariton zur vollen Schwingungskraft ausfährt, dürften die Bewohner der Eigenheime in den entsprechenden Straßen ihn mühelos hören können.
Dabei steht Grundhebers Haus in einer dem Namen nach ganz opernunverdächtigen Wohnstraße in Rissen hinter dem Canyon, wie sie dort die schluchtartige Verbindungsstraße zwischen Sülldorf und dem nächsten Ort flussabwärts nennen. Ende September wird Franz Grundheber 75. Seine Stimme jedoch klingt noch so kraftvoll und wohltönend, als habe er die 50 noch vor sich. Weil er dieses Gottesgeschenk zeitlebens gut gehütet hat, kann er heute Abend seine 2000. Vorstellung an der Hamburgischen Staatsoper singen, den Amonasro in Verdis "Aida".
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2000 Vorstellungen - das ist, als habe Grundheber fünf Jahre lang en suite von Neujahr bis Silvester jeden einzelnen Abend singend auf der Bühne der Staatsoper verbracht und ein sechstes Jahr noch mal von Neujahr bis ungefähr Johanni. Das wird erst dann halbwegs begreiflich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass sein erster Auftritt dort bereits am 27. Oktober 1966 stattfand, also vor über 45 Jahren. Diese Zeitspanne umfasst das Leben manches weltberühmten Tenors - von der Geburt bis zum Karriereende. Grundheber aber war schon bald 29 Jahre alt, als Rolf Liebermann ihn damals, am 13. Oktober um 13 Uhr ("Alles Wichtige in meinem Leben ist an einem 13. passiert") mit der kauzigen Bemerkung "Einen Einjahresvertrag kann ich Ihnen leider nicht geben. Aber einen Zweijahresvertrag" ans Haus holte. 18 Jahre blieb Grundheber fest an der Dammtorstraße, dann ging er "ins Frei", wie die Opernsänger sagen, wenn sie keinen Ensemblevertrag mehr wollen. "Und da begann meine Karriere erst."
Worüber spricht man mit einem weltberühmten Sänger, der allein in Hamburg 124 Rollen verkörpert hat - Bösewichte, Liebende, Verräter, Intriganten, Lustige, Herrscher, Märchentypen, manchmal vieles davon in einer Person? Was will man wissen von einem, der allein im dritten Jahr bei Liebermann 162 Vorstellungen sang und 30 Partien erlernte? Der sie alle generationenweise kennt, die Regisseure, Dirigenten und Intendanten, die Kolleginnen und Kollegen? Die Gescheiterten, die Lichtgestalten, die Egos und Superegos der Branche? Weil man für all die Anekdoten und Erinnerungen, die in diesem Mann stecken müssen, vielleicht nicht 2000 Interviews braucht, aber doch viele, viele Stunden, spricht man bei dieser einen Begegnung am Nachmittag am liebsten mit ihm über das, was am weitesten zurückliegt: seine Kindheit und Jugend. Und wie es kam, dass ein einfacher Handwerkersohn aus dem Dorf Biewer bei Trier in der vor ein paar Jahren von Hörern des SWR zusammengestellten Top-100-Liste der größten Rheinland-Pfälzer Rang 80 einnimmt, hinter dem Buchdruckerfinder Gutenberg, hinter Helmut Kohl, Mario Adorf und Karl Marx, aber doch vor Rudi Michel, Jürgen von Manger und Rudolf Scharping.
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Den ersten Gesprächstermin sagt Grundheber kurzfristig ab, weil er in Wien beim "Otello" für den erkrankten Jago einspringen muss. Er ist noch immer so gut im Geschäft, dass auch überm zweiten Interviewtermin das Damoklesschwert eines Emergency-Auftritts an der Deutschen Oper in Berlin schwebt. Doch diesmal muss er nicht weg. Franz Grundheber steht in der Küche, kocht dem Reporter und dem Fotografen Kaffee und sucht gelassen-zerstreut nach Knabberzeug. Als er alles gefunden hat, tischt er Kekse auf, Kaffee und Geschichten.
Wie er, ein Kriegskind, ohne den Vater aufwuchs, der als Dreher zum Kanonenbauer Hanomag nach Hannover einberufen wurde. "Bis ich acht Jahre alt war, habe ich den Vater nicht erlebt." Der machte später seinen Meister, und als sich im Sohn die Liebe zur Musik zu regen begann, war der Vater nicht sehr entzückt. "Eine Lehre, dann Post oder Bahn, das wär's gewesen für ihn", erinnert sich Franz Grundheber. Die Mutter aber sorgte dafür, dass er aufs Gymnasium kam. Sein Deutschlehrer weckte in ihm das Interesse für Literatur und Theater: "Ab 14 bin ich regelmäßig ins Schauspiel nach Trier. Ich war hin und weg vom Theater. Auch von manchen Schauspielerinnen." In der katholischen Jugend sang er im Chor zu Akkordeon-Begleitung. Noten konnte er nicht, aber sein Gedächtnis für Melodien machte das wett. Und weil die Stimme schön klang, tat Franz Grundheber sich bald mit dem Bäckersohn Jakob unten im Haus zusammen, der Orgel und Klavier spielte. "Wir sind auf Beerdigungen, auf Hochzeiten oder Taufen aufgetreten. Für 20 Mark. Sagenhaft viel Geld damals!"
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Und dann, mit 18, geschieht "einer jener 20 oder 25 entscheidenden Zufälle in meinem Leben": Jemand schenkt Franz Grundheber eine Opernkarte. "Die Zauberflöte" wird gegeben, der Halbwüchsige langweilt sich ordentlich. Bis plötzlich dieser Priester Sarastro den Mund auftut und "Steh auf, erheitere dich, o Liebe" singt. Mit einer Stimme, wie sie der Oberschüler aus Biewer bei Trier noch nie in seinem Leben gehört hat. "Ich bekam eine Gänsehaut nach der anderen. Dass eine unverstärkte Stimme einen körperlich berührt, das hatte ich nie erlebt. Ich hab ja immer nur mit Kopfstimme gesungen."
Dieses Naturereignis von Stimme gehört einem Sänger aus Ehrang bei Trier, Peter Roth, der sich Roth-Ehrang nennt. Mit dem Fahrrad fährt Grundheber zu ihm und singt ihm vor. Nun beginnt der groß gewachsene, handballvernarrte junge Mann auch mit seinem ganzen Körper zu singen, und da kommt eine Menge Klang raus, so viel, dass der Vater zu Hause oft an die Wand hämmert und schreit: "Hör auf! Ich muss morgen um fünf aufstehen!" Roth-Ehrang wirbt bei den Eltern brieflich um eine Gesangsausbildung ihres hochbegabten Sohnes. Der nimmt ein paar Stunden, geht aber lieber zum Militär, denn er will raus aus dem Dorf, Flieger werden. Doch die Musik, "in die ich mich schon so verguckt hatte, dass ich durchs Abi gerasselt bin", die hat ihn da schon fest im Griff.
Grundheber hilft als Zugführer beim Deichschutz mit, als im Februar 1962 die große Sturmflut über Hamburg kommt, aber bald darauf ist's vorbei für ihn mit der Armee. Er nimmt sich "ein ganz billiges Zimmer in Hamburg und einen Halbtagsjob von 8 bis 13 Uhr, Remittenden von der 'Welt am Sonntag' und anderen Zeitungen zählen", und zahlt privat Schauspiel- und Gesangsunterricht. Über den Gesangslehrer erzählt Grundheber einiges, das er nicht gedruckt sehen möchte. Schließlich führt ihn ein Vorsingen zwecks Verlängerung eines kleinen Stipendiums von der Kulturbehörde vor die Ohren des Verwaltungsdirektors der Staatsoper. Der vermittelt ihn in ein Austauschprogramm in die USA. "Dort hatte ich zwei Jahre lang Unterricht, bei Margaret Harshaw. Und ich habe in der Zeit schon viel auf der Bühne gesungen."
Ein Foto der Lehrerin von vor 46 Jahren hängt an der Wand seiner Studierstube in der ehemaligen Garage. Nicht weit von einem zerrissenen und wieder zusammengefügten Telegramm von Verdi, das ihm ein Fan aus Italien schenkte, einer Autogrammkarte von Herbert von Karajan mit ein paar freundlichen Worten und Bühnenfotos mit José Carreras und Placido Domingo und ihm. Auf dem Klavier steht ein Foto der beiden Kinder aus erster Ehe. Im Herzen trägt er seine zweite Frau Angelika, mit der er seit 25 Jahren verheiratet ist und die ihm so viel bedeutet, dass er den Reporter noch auf dem Nachhauseweg anruft, um ihm zu sagen, dass sie als Weggefährtin, Anregerin und gute Kritikerin unbedingt reingehört in eine Geschichte über ihn. So ausgeglichen und heiter wie Franz Grundheber mit seinen bald 75 Jahren wäre man dann gern selbst. Und so jung gehalten, von der Musik und von der Liebe.