Hamburg. Noch bis diesen Sonnabend steigt auf St. Pauli das Reeperbahn Festival. Eine Reportage mit viel Musik und Glücksgefühlen.

Was suchen die Menschen eigentlich, die eine riesige Sause wie das Reeperbahn Festival besuchen? Inspiration für ihr Leben oder die Flucht davor? Das ultimative Gemeinschaftsgefühl oder die Einsamkeit in der Masse? Sammeln sie Konzerte für ihr ganz persönliches Pop-Poesiealbum, oder wollen sie Kontrollverlust im Treibenlassen? Bei mehr als 500 Konzerten in vier Tagen und Nächten an mehr als 70 Orten vom Club bis zur Kirche sollten sich doch Antworten finden lassen.

Klare Ansagen gibt es am frühen Donnerstagabend bei Kettcar, deren Konzert vor dem Knust kurzfristig im Kalender auftauchte. Ein Indiz dafür, dass das Reeperbahn Festival wie ein Magnet wirkt, der alles anzieht, was Pop beinhaltet. Und im Fall von Marcus Wiebusch und seiner Band bedeutet das: Pathos und Politik. Neue Nummern wie „Wagenburg“ erzählen von einem Land zwischen Angst und Egomanie. Und wie die Fans da in der Menge stehen und lauschen – Kind auf den Schultern, den Kumpel daneben, Feierabendbier in der Hand – weht sie womöglich ein alternatives Heimatgefühl an. Ein waches, kritisches, gemeinschaftliches.

„Hallo Hamburg, wir sind Tomte, sagt Kettcar-Sänger Marcus Wiebusch
„Hallo Hamburg, wir sind Tomte, sagt Kettcar-Sänger Marcus Wiebusch © Michael Rauhe | Michael Rauhe

Alice Merton gibt eine Lehrstunde in Leichtigkeit

Vielleicht suchen die Festivalgänger auch einfach nach einer Stadt aus Gold, wie die australische Folk-Combo Tinpan Orange sie vom Dach eines Containers aus besingt. Und wenn dann Geigen- und Gitarrenklänge über das Heiligengeistfeld driften, wenn es um Bunker und Millerntor-Stadion dämmert, dann versinken die Hörer in schönster Melancholie. Dann zieht die Musik an tiefsten Tiefen. Dann findet sich ein Gefühl, das der Alltag verdeckt. Doch allzu lange hält diese Stimmung nicht an für all jene, die weiter durch das Festival streamen und strömen. Hin auf die Meile, die Reeperbahn. Wo sich allerlei lernen lässt. Odario Williams, Rapper der kanadischen Hip-Hop-Crew Grand Analog, zeigt im Kukuun eindrücklich, wie sich rhythmisch durchs Leben gehen lässt. Mit elastischen Beinen nämlich. Und mit einer alles umarmenden Lässigkeit.

Die heiß gehandelte Pop-Newcomerin Alice Merton wiederum gibt im Docks nicht nur eine Lehrstunde in Lebensfreude und Leichtigkeit, sondern sie demonstriert mit ihrer impulsiven Show auch, wie sich aus kürzester Zeit das Effektvollste herausholen lässt.

Die meisten Musiker haben in diesen tollen Hamburger Pop-Tagen nur 30 bis 45 Minuten Zeit, um zu beeindrucken. Das Festival, eine Schule des Zeitmanagements. Und gleichzeitig der Gelassenheit. Flexibilität ist die Königin.

Die deutsch-irische Newcomerin Alice Merton beeindruckte im Docks
Die deutsch-irische Newcomerin Alice Merton beeindruckte im Docks © Michael Rauhe | Michael Rauhe

Ist vor einem Club die Schlange der Wartenden zu lang, geht’s weiter zum nächsten. Zum Beispiel in die Nochtwache, wo die russische Band Sado Opera in Fantasie-Uniformen zum Rollenspiel lädt. Eine Art „Rocky Horror Russen Show“. Knallweiß geschminkt sind ihre Gesichter, tiefschwarz ihre aufgemalten Sternenaugen. Ihr Pop-Spektakel ist krass, bunt, aber auch nah, menschlich. Vielleicht, so kommt es einem in den Sinn, liegt das, was wir suchen, jenseits unserer Komfortzone. Außerhalb des Bildes, das wir von uns haben. Im Fremden, auch mal Merkwürdigen.

Eine Hamburger Meisterin des Schrillen ist Olivia Jones definitiv. In ihrer Kiez Oase auf dem Spielbudenplatz tritt, als es längst dunkel ist, das Quartett Dakota auf. Und was sich da entdecken lässt, ist vor allem der große Spaß am Kontrast, ohne den der Kiez, ach, das ganze Dasein doch recht fad wäre. Zeit, die Gegensätze zu genießen.

Die Festival-Ritter, sie ziehen von Moment zu Moment

Die Musikerinnen tragen Wollpullis und Shirts, die Haare hängen entspannt herab, die Songs sind wunderbar traumwandlerisch. Vier Schluffis in einem Ambiente zwischen Almhütte und Tropenhaus. Der Sound wogt somnambul, der Autoverkehr fließt träge hinter der Bühne vorbei. Scheinwerfer um Scheinwerfer, Licht um Licht. Blinkpfeile weisen in eine Spielothek. Hin zum Glück, dem vergänglichen. Und die Festival-Ritter, sie ziehen weiter. Von Disco zu Disco. Von Moment zu Moment. Im Molotow am anderen Ende der Reeperbahn lassen sich reichlich Augenblicke einsammeln. Auf drei Etagen plus Hinterhof. Eine Rock ‘n’ Rummelbude. An jeder Ecke knallt und rappelt es.

Und dann stehen ein paar Dutzend Leute auf einmal in der wohl kleinsten Location des Reeperbahn Festivals, dem sogenannten Karatekeller im Molotow. Ein grandios schummriges Loch. Ein Tocotronic-Vers schießt durch den Kopf: „Das haben sich die Jugendlichen selbst aufgebaut“. Und da spielt dann diese Band aus Korea. Aus Korea! Irre.

Drei Typen. Zwei hyperaktiv hinter zig Geräten. Keyboards und Synthesizer. Der dritte trommelt wie wild. Alles fiept und wummert und mit den Tönen schraubt sich die Euphorie empor. Alle tanzen, hüpfen, johlen, schwitzen. Jemand verschenkt sein Bier in leere Becher. Die Herzen fliegen hoch. Die Band strahlt, das Publikum leuchtet. Und in diesem Moment wissen alle im Raum, was sie gefunden haben. Ein Zuhause.

Das Reeperbahn Festival endet am Sonnabend, 23.9., Tickets + Infos: www. reeperbahnfestival.com