Hamburg. Statt auf kurzfristige Showeffekte setzt die Koalition eher auf einen langfristigen Wandel und Gewaltverzicht des besetzten Zentrums.

Ein Kaffeekränzchen hätte nicht harmloser begonnen. Als sich die Mitglieder des Sonderausschusses der Bürgerschaft zu G20 am Donnerstagabend erstmals trafen, war die Stimmung ausgesprochen gelöst. Hier ein Pläuschchen, da eine Umarmung – abgesehen vom feierlichen Rahmen, den der prächtige Kaisersaal im Rathaus bot, deutete nichts darauf hin, dass hier gerade ein neues Gremium die bierernste Aufgabe übernahm, die schlimmsten Krawalle in Hamburgs Nachkriegsgeschichte aufzuarbeiten.

Selbst die Abwesenheit von Innensenator Andy Grote (SPD) wurde klaglos hingenommen. Er sei ja erst wenige Tage zuvor erstmals Vater geworden und müsse sich um Frau und Kind kümmern, entschuldigte der Ausschussvorsitzende Milan Pein (SPD) seinen Parteifreund und gab dem möglicherweise unter Schlafmangel leidenden Jung-Vater den freundschaftlichen Hinweis: Die Sitzungen des Sonderausschusses seien zum Ausschlafen jedenfalls „nicht geeignet“. Wie gesagt: Kaffeekränzchen-Niveau.

Ende der Harmonie

Schlagartig vorbei war die Harmonie jedoch, als der einzige inhaltliche Tagesordnungspunkt dieser Auftaktsitzung aufgerufen wurde. Die AfD hatte beantragt, dem Ausschuss eine Ortsbesichtigung der Roten Flora zu ermöglichen. Die, so ihr Innenpolitiker Dirk Nockemann, habe ein zentrale Rolle bei den G20-Exzessen gespielt und müsse daher mal inspiziert werden. „Ich möchte direkt an die Quelle der Gewalt gehen“, sagte der frühere Schill-Politiker in gewohnt markigen Worten.

Unbedarfte Beobachter hätten sich vielleicht gefragt, was an diesem Antrag so strittig ist. Die Rote Flora ist das Symbol der linken Szene in Hamburg, sie hatte im Vorfeld massiv gegen G20 agitiert, den Protest aus ganz Europa geradezu eingeladen und sich dabei ganz bewusst nicht von Gewalt distanziert. Dann lief die Geschichte völlig aus dem Ruder, und nun sagen politische Vertreter der Stadt – der das Gebäude gehört und die die Autonomen dort mietfrei duldet –, sie wollten mal vorbeikommen und reden. Eigentlich ganz normal, könnte man denken.

Weit gefehlt. Bis auf die CDU, die sich erst an „geeigneter Stelle“ im Ausschuss mit der Flora befassen will und sich daher enthielt, lehnten alle anderen Fraktionen den Antrag ab. Man brauche jetzt „Aufklärung und keine PR-Maßnahmen“, sagte Carl Jarchow (FDP), dessen Wort unter den Innenpolitikern Gewicht hat.

Auch Schill hatte die Flora nicht geräumt

Dass bei der Flora eben nichts normal ist und der AfD-Antrag auch eine gehörige Portion Show enthielt, zeigt sich schon mit einem Blick in die Geschichtsbücher: Auch die Koalition aus CDU, Schill-Partei und FDP, in der Nockemann Ende 2003 kurzzeitig Innensenator war, hatte am Status der schon damals besetzten Roten Flora nichts geändert. Dass dies nicht so einfach ist, weiß natürlich auch die AfD.

Hinzu kommt: Mit Anträgen einer Partei, deren Spitzenpersonal das Holocaust-Mahnmal verdammt, auf Flüchtlinge schießen lassen will oder, wie zuletzt Spitzenkandidat Alexander Gauland, die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Aydan Özoguz (SPD), „in Anatolien entsorgen“ will, haben nicht nur SPD und Grüne, sondern auch CDU, FDP und Linkspartei prinzipiell Probleme. Dass Özoguz aus Wandsbek stammt und die Hamburger AfD sich nicht von Gaulands Ausfällen distanziert hat, hat das ohnehin belastete Verhältnis zusätzlich zerrüttet.

Scholz weckte Erwartungen

Doch zurück zur Flora. Es war ja Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) höchstpersönlich, der nach G20 mit harten Ansagen Erwartungen geweckt hatte. „Da muss etwas passieren“, sein Geduldsfaden sei „gerissen“, sagte er Anfang August im Abendblatt und betonte, niemand solle glauben, es könne alles bleiben, wie es war. Doch was soll passieren? Welche Strategie verfolgt Rot-Grün bei der Flora?

Eines dürfte spätestens seit der Ausschusssitzung klar sein: Auf einen Showeffekt, der vor der Bundestagswahl kurzfristig Druck aus dem durch G20 angeheizten innenpolitischen Kessel nimmt, setzt man im Rathaus eher nicht. Wäre ein symbolträchtiger Hausbesuch durch Polizei, Staatsanwaltschaft oder Politik geplant, hätten sich SPD und Grüne wohl kaum noch vorher von der AfD vorführen lassen – die natürlich die Ablehnung ihres Antrags in der ihr eigenen Art ausschlachtete: „Altparteien schrecken mal wieder vorm Linksextremismus zurück“, verbreitete die Fraktion am Freitag.

Bemerkenswert: Die linke Szene selbst erweckt hingegen den Eindruck, als stünde die Erstürmung der Flora unmittelbar bevor. „Für mich ist klar, dass jetzt Rache genommen werden soll“, sagte Flora-Sprecher Andreas Blechschmidt jüngst der Zeitschrift „Konkret“. Er rechne mit „einer Welle der Repression“. Nun gilt natürlich: Was nicht ist, kann ja noch werden. Aber derzeit liegen Linke und Rechte gleichermaßen falsch. Denn tatsächlich setzen SPD und Grüne auf einen Mittelweg, der die Flora zwar erhalten, ihr aber endlich ein Bekenntnis zum Gewaltverzicht abtrotzen will.

Angst vor Ausschreitungen

Nach den markigen Ansagen des Bürgermeisters hat sich inzwischen eine ziemlich nüchterne Betrachtung eingestellt. Die geht in etwa so: Erstens ist den Rotfloristen bislang keine strafbare Handlung nachzuweisen – wobei ja ohnehin schwer zu belegen ist, wer überhaupt zur Flora gehört. Zweitens genießt das seit fast 30 Jahren besetzte Theater im Viertel nach wie vor Sympathien. Politisch als Bollwerk gegen Kapitalismus und Gentrifizierung, aber auch genau umgekehrt: Mit Blick auf die berüchtigtste Immobilie der Republik schmeckt der Latte macchiato am Schulterblatt halt doppelt so gut. Anders gesagt: Die Schanze lebt gut von der Flora. Drittens sind die Folgen abzuwägen: Jede Form von Zwangsmaßnahmen würde vermutlich zu einer neuen Eskalation führen, und es stellt sich die Frage, ob es das wert ist.

„Mein Eindruck ist, dass der Stadtteil die Flora weiter toleriert, aber er toleriert nicht die Gewalt“, sagt SPD-Fraktionschef Andreas Dressel, nachdem er sich gemeinsam mit Grünen-Fraktionschef Anjes Tjarks im Schanzenviertel umgehört hat. Weitere Erkenntnisse erhoffen sie sich von der geplanten öffentlichen Anhörung im Viertel durch den Sonderausschuss. Nicht zuletzt dürfte neben der Abkehr von Gewalt auch die Öffnung zum Stadtteil eine Rolle spielen, deutet Dressel an: „Ein Ziel ist, dass am Ende auch ein Spießer wie ich da Einlass erhält.“ Zum Beispiel für ein Kaffeekränzchen.