Hamburg. Mediziner soll Seniorinnen tödliche Medikamente gegeben haben. Die Frauen haben laut Anklage zuletzt mit ihrer Entscheidung gehadert.

„Es sah aus, wie bei einer nachmittäglichen Teestunde.“ So beschreibt am Donnerstag eine Polizistin die Situation am 10. November 2012 in einer Wohnung von zwei Seniorinnen in Fuhlsbüttel. „Die Damen hatten sich für diesen Anlass nett zurecht gemacht, geschminkt und schön angezogen.“ Sie hätten in Sesseln im Wohnzimmer gesessen, die Köpfe waren nach vorne gefallen, so als wenn sie schlafen würden. Doch statt Tee hatten sie eine Überdosis eines Malaria-Medikaments und weitere Mittel eingenommen. Kurz darauf waren sie gestorben.

Die Beamtin sagt als Zeugin im Prozess gegen einen Arzt des Vereins Sterbehilfe Deutschland aus. Dem 75 Jahre alten Mediziner wird von der Staatsanwaltschaft Totschlag vorgeworfen. Die Große Strafkammer des Landgerichts will aber zunächst nur über den Vorwurf der versuchten Tötung auf Verlangen durch Unterlassen verhandeln, so wie es das Oberlandesgericht nach einem Streit um die Zulassung der Anklage entschieden hat.

Grund war "ihre Angst vor dem Altern"

Hintergrund des Streits sind schwierige Rechtsfragen im Zusammenhang mit der Sterbehilfe. Doch die Strafkammer will zunächst den Fall als solchen klären, bevor sie Grundsatzentscheidungen trifft. Der Anklage zufolge hatte der Arzt in einem Gutachten selbst festgestellt, „dass die Betroffenen geistig und körperlich rege und sozial gut eingebunden waren und der Grund für ihren Wunsch allein ihre Angst vor dem Altern und dessen Folgen waren“.

Die Polizistin berichtet, was ihr der in der Wohnung anwesende Angeklagte damals sagte: Die Damen hätten dort zusammen gelebt und seien nicht krank gewesen. Viele Freunde der 81 und 85 Jahre alten Frauen seien gestorben, und sie hätten Angst gehabt, dass auch eine von ihnen stirbt und die andere allein zurücklässt.

Der Tod war mit Hilfe des Vereins Sterbehilfe Deutschland offenbar minuziös geplant: Die Frauen waren laut Staatsanwaltschaft im Juni 2012 an den Vereinsvorsitzenden, den ehemaligen Hamburger Justizsenator Roger Kusch, herangetreten. Dieser hatte sie an den Arzt verwiesen. Der Mediziner erstellte das Gutachten, beschaffte den Angaben zufolge die Medikamente und brachte sie den Frauen. Die Einnahme protokollierte er. Nach der Feststellung des Todes habe er eine längere Zeit gewartet, und erst dann die Rettungskräfte verständigt.

Angeklagter meldet Tod der Feuerwehr

In der Aufzeichnung des Anrufs, die das Gericht vorspielte, ist der Angeklagte zu hören, wie er mit vollkommen sachlicher Stimme dem Feuerwehrbeamten erklärt, dass zwei Frauen eines „nicht natürlichen Todes durch Suizid“ gestorben sind. Es sei der Wunsch der Verstorbenen gewesen, dass die Retter nicht „mit einem riesengroßen Bahnhof“ anrückten. Alle Dokumente, Erklärungen der Seniorinnen, deren Personalausweise und die Medikamentenpackungen sind auf einem Tisch um einen Blumenstrauß zurechtgelegt, wie ein Foto der Polizei zeigt.

Über ein freiwilliges Ausscheiden aus dem Leben oder den Verein Sterbehilfe hätten sie nie geredet, sagt der Bruder der älteren Seniorin als Zeuge. Sie hätten wöchentlich miteinander telefoniert, zuletzt noch am Vormittag des Todestages. Da sei es um das Weihnachtsfest gegangen, das die 85-Jährige wie üblich bei der Familie ihres Bruders in Leipzig verbringen wollte. Seine Schwester habe regelmäßig Bridge in einem Club gespielt, sich bestens mit ihrer Freundin und Mitbewohnerin verstanden und habe ihre Kirchengemeinde mit Geld und Kleiderspenden unterstützt. Herzprobleme, Hüftbeschwerden und eine Lippenkrebserkrankung hätten ihr zu schaffen gemacht, aber über Schmerzen habe sie nicht viel geklagt.

Seniorinnen sollen gezweifelt haben

Laut Anklage waren die beiden Seniorinnen nicht ganz sicher, dass sie sterben wollten, als ihnen der Arzt die Medikamente brachte. Sie hätten mit ihrer Entscheidung gehadert, die 81-Jährige habe geweint. Er habe den beiden Frauen jedoch suggeriert, dass ihre Entscheidung durchdacht und ohne Alternative sei. Daraufhin hätten sich die Frauen zur Selbsttötung bereiterklärt.

Der Angeklagte wollte sich am Donnerstag nach Angaben seines Anwalts noch nicht zu den Vorwürfen äußern. Der Verein Sterbehilfe Deutschland verwies darauf, dass es in dem Prozess nur um Vorwürfe gegen den Arzt gehe.

Im Streit um die Zulassung der Anklage hatte das Hanseatische Oberlandesgericht den Totschlagsvorwurf verneint. Die Frauen hätten die freie Entscheidung und Kontrolle über das Gesehen bis zur Einnahme der todbringenden Medikamente behalten. Erst als sie das Bewusstsein verloren, hätte der anwesende Arzt die Pflicht gehabt, sofort die Rettungskräfte zu rufen. Er habe dies unterlassen, um eine Rettung zu verhindern. Daraus resultiere der Vorwurf der versuchten Tötung auf Verlangen durch Unterlassen. Gleichwohl ließ das Oberlandesgericht die ursprüngliche Anklage „im Tenor“ zu. Und die lautet auf Totschlag. Die Strafkammer muss nun einen Weg aus dem juristischen Dilemma suchen.