Hamburg. Seit 15 Jahren bietet der Kinderschutzbund Erziehungshilfe am Telefon. Gewandelt haben sich vor allem die Mütter und Väter selbst.
Die Mutter ist ziemlich aufgelöst. Ihr siebenjähriger Sohn hat ihr gegen das Schienbein getreten, als sie ihn von der Schule abgeholt hat und es kein Eis gab. „Das tat so weh, dass ich nach Hause humpeln musste“, sagt die Mutter. Am liebsten, gibt sie zu, hätte sie ihren Sohn geschlagen. „Was mache ich denn falsch?“, fragt die Frau. Sie ist unsicher und hat die Nummer des Elterntelefons beim Hamburger Kinderschutzbund gewählt.
Birgit Kärgel hört der Mutter zu, lässt sich den Vorfall schildern. Die Sozialpädagogin und Mediatorin sitzt an diesem Morgen an dem schwarzen Tastentelefon und nimmt die Anrufe entgegen. Es geht nicht darum, das Verhalten der Mutter oder des Kindes zu bewerten oder jemanden zu belehren. Die 55-Jährige und ihr Team mit 28 Ehrenamtlichen leisten hier in dem Büro an der Fruchtallee mit Blick in den grünen Hinterhof so etwas wie Erste Hilfe. Birgit Kärgel berät, gibt Impulse und verweist die Ratsuchenden an Beratungsstellen weiter.
Das Elterntelefon gibt es seit 15 Jahren. Birgit Kärgel und ihre Mitstreiter konnten in dieser Zeit beobachten, wie sich die Konfliktlagen verändert haben. Zwar seien die Sorgen weitgehend die gleichen geblieben, sagt die Expertin. Wo die Anrufer aber ein höheres Bedürfnis nach Beratung haben, ist beim Thema Hochbegabung. Ob die Kinder heute schlauer sind, weiß Frau Kärgel nicht, aber die Wahrnehmung dafür hat sich geändert. Und: „Der Leistungs- und Förderungsgedanke ist gestiegen.“ Leistung werde mit Glück gleichgesetzt.
Es sind weniger die Probleme, die sich gewandelt haben, als die Eltern selbst. Sie seien oft zu verkopft. Sie sind unsicherer geworden und können häufig schlecht Nein sagen. Frau Kärgel: „Die Zeit, die Eltern mit ihren Kindern verbringen, ist weniger geworden. Und diese Zeit wollen Eltern so optimal wie möglich gestalten, harmonisch und ohne Streit.“ Die Kinder würden früher fremdbetreut, häufig sind beide Elternteile berufstätig. „Die wenige Zeit mit dem Kind hat eine sehr hohe Bedeutung bekommen.“
Nein zu sagen ist wichtig
Doch Nein zu sagen sei wichtig. Frau Kärgel hat dafür ein Bild: „Kinder haben das natürliche Recht, alle Räume zu nutzen, die wir ihnen geben. Es ist die Aufgabe der Eltern, diese Räume klar einzugrenzen, damit die Bedürfnisse von allen Familienmitgliedern gesehen und gelebt werden können.“ Eltern geben die Orientierung und den Rahmen vor. Aber viele hätten Angst vor „Liebesverlust“, wenn sie streng rüberkommen.
Der erste, völlig anonyme Kontakt am Elterntelefon des Hamburger Kinderschutzbundes ist für Mütter (meistens sind sie es, die sich melden), Väter oder andere Verwandte eine niedrigschwellige Möglichkeit, mit jemandem über Sorgen sprechen zu können. Im vergangenen Jahr wurde die Nummer 892-mal gewählt, in 638 Fällen entwickelten sich daraus Beratungsgespräche. Das ist nicht selbstverständlich. Manchmal verlässt die Anrufer der Mut, und sie legen wieder auf, oder sie schweigen einfach.
Trennung, Pubertät und Mobbing
„Ihr Kind ist verunsichert und sucht Klarheit“, sagt Frau Kärgel der Mutter des tretenden Jungen am Telefon. Das Hauen könne ein Ventil sein, um Frust und angesammelte Aggression abzuladen. Ihre Empfehlung: „Eine Reaktion wäre, dass Sie sich auf Augenhöhe zu Ihrem Sohn begeben und klar und deutlich sagen: ,Ich sehe, dass du enttäuscht, gefrustet oder wütend bist. Das kann ich verstehen. Du kannst deine Wut rausschreien oder mit den Füßen stampfen. Nur hauen darfst du mich nicht. Das dulde ich nicht! Denn das tut mir weh!‘“
Aus Fremden werden am Telefon innerhalb weniger Minuten zwei Menschen, die offen über sehr Privates sprechen, ohne sich dabei in die Augen schauen zu können. Die einzige Verbindung ist die Stimme. Im Schnitt dauert solch ein Gespräch 20 Minuten. Dabei fließen mitunter Tränen am anderen Ende der Leitung. Frau Kärgel und ihre Mitarbeiter sprechen am Telefon über Eheprobleme, über Mobbing in der Schule, über Gewalt und sexuellen Missbrauch.
Anliegelisten dokumentieren Gespräche
In sogenannten Anliegelisten sind die Gespräche dokumentiert. Zum Beispiel: „Vollkommen erschöpfte alleinerziehende Mutter brauchte Hilfe und wollte sich aussprechen.“ Empfehlung der Beraterin: „Sie braucht eine persönliche Stärkung. Auch Mutter-Kind-Kur angeregt. Am Ende des Gesprächs wurde das Weinen weniger, und sie wurde ruhiger.“ Oder die dreijährige Tochter, die frech ist und ihre Eltern beschimpft und schlägt. „Später wurde klar, dass die Anruferin und ihr Mann Eheprobleme haben, und die Tochter dies auch mitbekommt“, hat die Beraterin aufgeschrieben. Der Anruferin wurde eine Eheberatungsstelle genannt.
Was Hamburgs Kindern und ihren Eltern am häufigsten Sorgen bereitet, sind die Trennung der Eltern, Wutanfälle und das schwierige Miteinander in der Pubertät. Weitere Topthemen am Telefon: Schule und Mobbing.
Viele Kinder schlagen ihre Eltern
Mädchen und Jungen, die ihre Eltern schlagen, sind übrigens nicht ungewöhnlich. „Es ist ein Zeichen von mangelndem Respekt.“ Diese Kinder seien verunsichert und brauchen – auch hier – eine klare respektvolle Grenze. „Kinder wollen ihre Eltern kennenlernen – in allen Gefühls- und Lebenslagen, denn sie sind die größten Vorbilder und ihre Sparringspartner“, sagt Kärgel. „Daher provozieren sie, um viele Verhaltensvorbilder zu bekommen.“ Entschlossenheit, Klarheit und Zuwendung seien dann entscheidend. „Das wollen die Kinder spüren. Das gibt die Sicherheit, die sie brauchen. Sie suchen authentische Eltern, die sagen können, wie es ihnen geht.“
Nach 16 Jahren als ambulante Familienhelferin, in denen sie es mit drogenabhängigen Jugendlichen zu tun hatte, verhilft Birgit Kärgel das Elterntelefon zu mehr Abstand. „Das Elterntelefon ist ein geschützter Raum.“ Das tut den Anrufern gut, aber ihr selbst auch. Die Mutter von erwachsenen Zwillingen nimmt ihren Job mit Humor und viel Leidenschaft. „Das Reden hilft, das Problem einzuordnen. Wenn man gezwungen ist, eine Sache auszusprechen, entsteht eine Ordnung und eine neue Draufsicht“, sagt sie. Es sei „schön zu sehen, wie sich Verkrustungen lösen, wie es ins Fließen kommt, neue Denkwege entstehen“.
Das bundesweite Elterntelefon ist unter der gebührenfreien Telefonnummer 0800-111 05 50 zu erreichen. Elternkurse bietet der Hamburger Kinderschutzbund an, Infos unter Tel. 040/432 92 70