Hamburg. Firmen aus der Metropolregion bringen viele Innovationen auf den Markt. Wir erzählen die Geschichte dahinter. Heute: Übernormalnull.
Abenteuerlustig und experimentierfreudig war Oliver Wesseloh schon immer. Jahrelang ist der gebürtige Harburger durch die Welt gezogen, hat mit seiner Frau Julia in Miami gelebt und eine Brauerei auf den Cayman Islands aufgebaut. Als dem 43-Jährigen dann vor ein paar Jahren das Geld für eine eigene Braustätte fehlte, da schraubte er sich sein Sudhaus einfach aus ein paar ausrangierten Milchtanks zusammen. Die mächtigen Edelstahlgefäße versehen verlässlich ihren Dienst in der kleinen Kehrwieder Kreativbrauerei am Sinstorfer Kirchweg, ganz im Süden Hamburgs, unmittelbar vor der Grenze nach Niedersachsen.
Angesichts solch eines Ideenreichtums verwundert es kaum, dass Wesseloh als erster Kreativbrauer in Deutschland auf die Idee verfiel, auch mal ein alkoholfreies Craftbier herzustellen. „In der Szene kam das zunächst nicht so gut an“, erzählt Wesseloh mit verschmitztem Lächeln. „Viele Freunde und Kollegen haben die Nase gerümpft, weil alkoholfrei immer mit geschmacksarm in Verbindung gebracht wird.“ Doch von solchen Bedenken ließ sich Wesseloh nicht abhalten. „Ich wollte beweisen, dass alkoholfrei und aromaintensiv wunderbar zusammenpassen.“
Klassisches India Pale Ale
Im vergangenen Jahr brachten die Wesselohs dann das Übernormalnull auf den Markt. Dabei handelt es sich um ein klassisches India Pale Ale (IPA). Diese Biersorte ist bei Kreativbrauern besonders beliebt, weil sie sehr viel Hopfen enthält, den Hauptaromaträger im Bier. Ursprünglich wurden die IPAs in England für die britischen Kronkolonien in Indien gebraut, der hohe Hopfengehalt sollte die Biere haltbarer für die lange Überfahrt machen.
Um so viel Geschmack wie möglich ins Bier zu bekommen, verwendet Wesseloh einen bekannten Trick der Kreativbrauer: Er gibt den Hopfen nicht nur während des eigentlichen Brauprozesses hinzu, sondern auch danach, wenn der Gerstensaft in den Gär- und Lagertanks reift. Auf diese Weise bleibt das Aroma erhalten und wird nicht durch die Hitze abgetötet. „Kaltgehopft“ nennt sich das Verfahren. „Für das Übernormalnull habe ich zwei meiner Lieblingshopfen aus den USA, Mosaic und Simcoe, verwendet“, sagt Wesseloh. „Die sind megafruchtig und verleihen dem Bier einen Geschmack von Mango und Ananas.“
Gängige Verfahren haben Nachteil
Wie aber hat es der Hamburger geschafft, das Übernormalnull fast alkoholfrei zu brauen? „Gängige Verfahren wie der nachträgliche Entzug des Alkohols haben den Nachteil, dass dabei auch ein Großteil des Geschmacks verloren geht“, sagt Wesseloh. Der studierte Brauingenieur ging einen anderen Weg und nahm Kontakt zu seiner alten Universität, der TU Berlin, auf. Die Professoren dort stellten ihm eine obergärige Hefe zur Verfügung, die zwar Glucose, nicht aber die im Gerstenmalz überwiegend enthaltene Maltose vergären kann.
Dadurch entsteht im Brauprozess so gut wie kein Alkohol. 0,4 Volumenprozent enthält Wesselohs Kreation – das genügt, um das Bier nach deutschem Lebensmittelrecht als alkoholfrei zu deklarieren. Bis zu 0,5 Volumenprozent sind zulässig, da auch andere Getränke wie etwa Apfelsaft durch Gärung eine kleine Menge Restalkohol enthalten können. Einen Gehalt von null Prozent erreichen in Deutschland fast keine alkoholfreien Biere, eine der wenigen Ausnahmen ist Bitburger 0,0.
Bestseller der Kehrwieder Brauerei
Obwohl die Craftbier-Szene erst skeptisch war, hat sich das Übernormalnull zum Bestseller von Kehrwieder entwickelt: „Im vergangenen Jahr haben wir von unserem alkoholfreien Bier mehr verkauft als von allen anderen Sorten“, sagt Julia Wesseloh, die die kleine Brauerei mit ihrem Mann führt. Insgesamt setzte Kehrwieder rund 1200 Hektoliter im vergangenen Jahr ab. „Das ist in etwa die Menge, die große Brauer täglich in den Ausguss schütten“, sagt Oliver Wesseloh lächelnd. „Für uns aber reicht es, um davon zu leben.“
Weitere alkoholfreie Biere hat Wesseloh im Augenblick nicht in Planung. Lieber entwickelt der Brauer, der auch schon mal die Weltmeisterschaft der Biersommeliers gewonnen hat, alte Sorten weiter, die durch die industrielle Herstellung weitgehend in Vergessenheit geraten sind. So reift in seinen Tanks gerade eine ursprünglich in Goslar entstandene Gose heran, die neben Hopfen, Malz und Hefe auch noch Sanddorn, Salz und Koriander enthält. Das ist dann wirklich etwas für experimentierfreudige Biertrinker.
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Test: Außergewöhnlicher Geschmack
Das Produkt: Übernormalnull aus der Hamburger Kehrwieder Kreativbrauerei ist ein kaltgehopftes India Pale Ale (IPA). Der Hopfen wird hier erst ganz am Ende des Brauprozesses hinzugegeben, um einen möglichst intensiven Geschmack zu erreichen.
Nährwertangaben/Inhaltsstoffe: Hopfen, Gerstenmalz, Hefe und Wasser. Die Inhaltsstoffe entsprechen ganz dem deutschen Reinheitsgebot. Als Hopfen kommen die US-Sorten Simcoe und Mosaic zum Einsatz, dazu kommt dunkles böhmisches Tennen- und Karamellmalz. Der Alkoholgehalt liegt nicht bei 0,0, sondern bei 0,4 Volumenprozent. Bis 0,5 Volumenprozent dürfen Biere in Deutschland aber als alkoholfrei ausgewiesen werden. Trockene Alkoholiker oder Menschen, die Medikamente nehmen, sollten hier vorsichtig sein.
Preis-Leistungs-Verhältnis: Mit durchschnittlich 2,50 Euro pro Flasche hat das Übernormalnull selbst für ein Craftbier einen stolzen Preis. Gerechtfertigt wird dieser größtenteils durch die handwerkliche Herstellung und die hochwertigen Rohstoffe. So ist etwa der Hopfen nach Angaben der Brauerei im Einkauf deutlich teurer als herkömmliche Ware.
Verfügbarkeit: Erhältlich in diversen Hamburger Edeka-Märkten, in Onlineshops und Spezialitätenläden. Jeden Freitag zwischen 10 und 18 Uhr gibt es am Sinstorfer Kirchweg 74–92 auch einen Lagerverkauf.
Geschmack: Außergewöhnlich süffig und fruchtig, mit klar zu erkennenden Fruchtnoten wie Mango, Maracuja oder Ananas. Im Abgang etwas bitter, ohne unangenehm zu werden. Ein Craftbier, das sich von industriell hergestellten Durchschnittsbieren klar unterscheidet.
Fazit: Das Übernormalnull beweist, dass sich ein geschmacklich überzeugendes Craftbier auch alkoholfrei brauen lässt. Ganz ohne Prozente kommt es zwar nicht aus, es bewegt sich aber noch im gesetzlich zulässigen Rahmen für die Kennzeichnung. Der Preis ist allerdings hoch. Viereinhalb Sterne.
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