Hamburg. Bevor ein kompletter Güterzug Hamburg verlässt, wird organisiert und hin- und herrangiert. Ein Blick hinter die Kulissen.
Passagiere, die am Bahnhof Harburg einige Minuten Aufenthalt haben, erleben nicht selten, dass ein scheinbar nicht enden wollender Güterzug mit Containern den Bahnhof zwischen Gleis eins und dem Hauptgebäude passiert. Hier wird Frachtgut aus dem Hafen ins Binnenland transportiert. Doch bevor die Container auf der Schienen-Rennstrecke unterwegs nach Hannover sind, haben sie nahe der Waterkant eine komplexe Logistik durchlaufen. Das Abendblatt durfte einen Tag lang dabei sein.
Jährlich werden im Hamburger Hafen rund neun Millionen Standardcontainer umgeschlagen. Die meisten werden gleich weiter verschifft, aber gut drei Millionen Container erreichen ihre Empfänger auf dem Landweg. Fast die Hälfte von ihnen, gut 42 Prozent, tritt eine Bahnreise an.
Das macht Hamburg zum größten Eisenbahnhafen Europas – beim Konkurrenten Rotterdam liegt der Schienenanteil bei rund 15 Prozent. Zum größten Bahnhafen gehört ein 300 Kilometer langes Schienennetz mit Rangiergleisen sowie Ein- und Ausfahrtsgleisen, die verschiedenen sogenannten „Bahnhofsteilen“ zugeordnet sind.
Südlich des Bahnhofsteils Dradenau liegt das Büro der Firma Metrans. Die Tochter der Hamburger Hafen und Logistik AG (HHLA) nahm 1991 in Prag ihren Betrieb auf. Sie ist heute der Marktführer für Containertransporte nach Mittel-, Ost- und Südosteuropa im Hinterlandverkehr der Seehäfen Hamburg und Bremerhaven. Doch bevor die Züge ihre Fernreisen antreten können, müssen sie auf den Rangiergleisen des Hafens zusammengestellt werden. Das übernehmen die Metrans-Disponenten anhand von Transportlisten der Schiffsagentur, die von den Reedereien die Zielorte und Containerdaten mitgeteilt bekommt.
Der Fahrdienstleiter steuert den Schienenverkehr
Andreas Boyen ist Metrans-Disponent. Er schickt Lokführer Stefan Lang und seinen Assistenten Mehmet Besler zu einer Rangierfahrt los. Ein Güterzugteil muss von den Gleisen des HHLA-Terminals Burchardkai abgeholt werden. Die beiden Männer klettern in die königsblaue Lok im Abstellgleis neben dem Bürogebäude, starten deren Elektronik und machen sich abfahrbereit.
Lang meldet sich über Funk beim Fahrdienstleiter im Kontrollzentrum des Bahnhofs Süderelbe in Altenwerder-West: „Lok 558. Wir wollen vom Gleis 151 zum Burchardkai, direkt, Gleis 23.“ Am Containerterminal Burchardkai warten 18 beladene Wagen auf den Abtransport. Auf jeden Wagen (Fachjargon: Taschenwagen) passen zwei 40-Fuß-Container oder vier Standardcontainer mit der Länge von 20 Fuß (6,1 Meter). Diese heißen auf Englisch Twenty-foot Equivalent Unit, kurz TEU.
Nachdem der Fahrdienstleiter in Altenwerder sein Okay gegeben hat, setzt sich die hochmoderne Dieselhybridlok in Bewegung. Allzu viel Gas kann Lang nicht geben: Im Hafenbereich gilt ein Tempolimit von 25 Kilometer pro Stunde. Schließlich bewegen sich in vielen Gleisarealen auch Menschen. Von Dradenau kommend, fädelt sich Lok 558 Richtung Norden ein, rollt zum Bahnhofsteil Mühlenwerder, an den der Burchardkai angebunden ist.
Nach zehnminütiger Passage stoppt Lang die Lok, meldet sich beim Kontrollturm und bittet darum, auf Gleis 23 des Terminals einfahren zu können. Er bekommt „grünes“ Licht (im Rangierverkehr sind es zwei weiße, diagonal angeordnete Lichter), nimmt wieder Fahrt auf und rollt langsam an die aufgereihten und verkuppelten Wagen heran. Sie wurden ein paar Stunden zuvor von einem Kollegen in den Terminal rangiert und dann nach und nach von einer landseitigen Containerbrücke bestückt.
Jetzt sind alle Wagen mit Containern beladen, und es schlägt die Stunde von Mehmet Besler. Der Rangierassistent steigt von der Lok und gibt Stefan Lang über Funk Anweisungen, bis die Puffer der Rangierlok an den Stoßdämpfern des ersten Waggons anliegen. Besler steigt zwischen die Puffer, greift die schwere Verbindungskette, legt sie auf den Haken und zieht die Kette stramm – der Zug ist angekoppelt.
Jetzt folgt ein Kontrollgang um den fast 500 Meter lange Wagenreihe. Ab und an prüft Besler mit einem gezielten Tritt unter einzelne Taschenwagen, ob die Bremsen locker sind und nicht etwa festsitzen. Er schaut auf den Zustand und die exakte Lage der Container und auf alle Kupplungen zwischen den Waggons.
Am Zugende folgt die Bremsprobe: Per Funk meldet sich der Assistent beim Lokführer. Dieser betätigt die Druckluftbremse – bis zum letzten Waggon muss die Druckluft wirken, deshalb wird hier mit einem weiteren Tritt sichergestellt, dass die Bremse nun am Rad anliegt. Das ist der Fall, die Bremse kann wieder gelöst werden. Besler läuft nun prüfenden Blickes auf der anderen Zugseite zur Lok zurück.
Eine knappe Viertelstunde ist der Assistent unterwegs, dann ist Lok 558 wieder abfahrbereit. Bevor sich Lang beim Fahrdienstleiter meldet, ruft er den Disponenten Boyen an. Der schickt seinen Kollegen zum Bahnhofsteil Dradenau und dem dahinter liegenden Gleis 114 des Eurogate-Terminals. Hier stehen sechs weitere Wagen – und machen Güterzug Nummer 43319 mit Ziel Ceska Trebova – ein Bahnverkehrsknotenpunkt der Tschechischen Republik – komplett.
Doch vor der Abfahrt gibt es zunächst eine Wartepause am Terminal Burchardkai: Auf der Dradenau ist einer der Wagen noch nicht beladen. Nach knapp 20 Minuten erhält Lang die Vollzugsmeldung und teilt die geplante Rangierfahrt dem Fahrdienstleiter mit. Sie führt zunächst auf ein Kehrgleis. Nur so kann Lang bei Eurogate rückwärts „einparken“ und sein Assistent die sechs Wagen am Zugende ankoppeln.
Vor der Einfahrt ins Kehrgleis setzt Lang seinen Kollegen am Gleisbett ab. Zum Richtungswechsel besteigt er einen kleinen Trittrost am letzten Wagen und ist nunmehr das Auge des Lokführers. Denn die Lok befindet sich jetzt am Ende des Zuges, so dass Stefan Lang keinen Überblick über die Strecke haben kann. 20 Minuten später koppelt Mehmet Besler die sechs beladenen Wagen im Eurogate-Kombi-Terminal an und macht seinen Routine-Rundgang um den nunmehr 630 Meter langen Zug.
Ausfahrgleise sind an den Oberleitungen zu erkennen
Dann zieht Stefan Lang mit seiner Lok die komplette Wagenreihe aus der Dradenauer Gleisanlage, wechselt auf einem Kehrgleis ein weiteres Mal die Fahrtrichtung und stellt den Zug auf dem Gleis 442 im Bahnhofsteil Altenwerder-Ost ab. Es ist ein Ausfahrgleis. Diese Gleise sind daran zu erkennen, dass sie eine Oberleitung haben, damit sie von den E-Loks des Fernverkehrs angefahren werden können.
Einige Stunden steht der Zug in Altenwerder, bevor er über Harburg, Maschen und Stelle seine Fahrt nach Süden antritt. Ein Kollege hängt eine E-Lok von Metrans vor den Zug. Dann inspiziert ein Wagenmeister noch einmal gründlich den gesamten Güterzug. Etwa zwei Stunden dauert dieser Kontrollgang.
Um 16.03 Uhr ist die Abfahrt nach Tschechien vorgesehen. Doch es fehlt der Lokführer Josef Fulin. Der 48 Jahre alte Tscheche steht in Harburg im Stau und hätte sich gewünscht, dass der Fahrer ihn etwas früher in der Dienstwohnung abgeholt hätte. Eine gute halbe Stunde nach der geplanten Abfahrtzeit besteigt Fulin seine Lok und bereitet die Abfahrt vor: Er fährt den Bordcomputer hoch und den Stromabnehmer an die Oberleitung, kontrolliert ein weiteres Mal das Bremssystem. 17.25 Uhr meldet er Zug 43319 schließlich abfahrbereit.
Es dauert eine weitere gute halbe Stunde, bis der Fahrdienstleiter dem Zug freie Fahrt gibt. Mit zwei Stunden Verspätung lässt sich Fulin mit seinem Güterzug in die Hauptfahrtrichtung Süden einfädeln, muss mehrmals abbremsen, weil das Gleis vor ihm noch nicht frei ist und erreicht gegen 18.20 Uhr die Bahntrasse Hamburg-Cuxhaven.
Um 18.30 Uhr passiert Güterzug Nummer 43319 den Bahnhof Harburg. „Jetzt droht im Raum Hamburg nur noch ein längerer Halt in Maschen. Dort steht das Signal für die Einfädelung des Güterzugs auf die Rennstrecke nach Hannover“, sagt Mario Sundt, bei Metrans Teamleiter der Rangierlokführer. Heute läuft in Maschen alles glatt, und der Zug sortiert sich bei Stelle ohne weitere Verzögerungen ins bundesdeutsche Fernverkehrsnetz ein.
Die Hafenbahn
300 Kilometer Gleise, davon 110 Kilometer elektrifiziert, und 850 Weichen umfasst das Netz der Hamburger Hafenbahn. Sie ist das Bindeglied zwischen den Terminals und dem europäischen Eisenbahnnetz.
45,7 Millionen Tonnen Güter wurden 2015 per Hafenbahn transportiert. Neben Containern kommen große Mengen Massengüter, etwa Eisenerz und Kalisalz, auf die Schienen. Die Hafenbahn bedient mehr als 80 Gleisanschlüsse und ist Europas größte Hafenbahn.
Rund 200 Güterzüge mit insgesamt 5000 Waggons rollen an Werktagen über die Gleise der Hafenbahn, im Jahr sind es fast 60.000 Züge. Sie transportieren etwa 30 Prozent aller im Hafen umgeschlagenen Güter. Beim Hinterlandverkehr von Containern beträgt der Anteil gut 42 Prozent. Das waren im Jahr 2015 mehr als 1,4 Millionen Standardcontainer.
Knotenpunkt ist der Seehafenbahnhof „Alte Süderelbe“ in Altenwerder. Hier werden einzelne Waggons oder Waggongruppen zu Zügen oder Zugteilen zusammengestellt. Der Seehafenbahnhof ist an seinem Kontrollturm, der dem eines Flughafen-Towers ähnelt, von weitem gut zu erkennen. Hier sitzt der Fahrdienstleiter, der alle Zugbewegungen zwischen Terminals und verschiedenen Bahnhofsteilen koordiniert.
Die Hafenbahn ist ein Tochterunternehmen der Hamburg Port Authority (HPA) und eines der größten Eisenbahninfrastruktur-Unternehmen Deutschlands. Mehr als 110 Eisenbahnbetriebe nutzen diese Infrastruktur, darunter die HHLA-Tochter Metrans.
2016 feierte die 1866 gegründete Hamburger Hafenbahn ihr 150-jähriges Bestehen – das Gleisnetz war damals 55 Kilometer lang.
Dieselhybridlok
2016 stellte die HHLA-Tochter Metrans die weltweit erste Dieselhybridlok für den schweren Rangierbetrieb in Dienst. Sie stößt etwa 70 Prozent weniger Feinstaub aus als herkömmliche Rangierloks mit Dieselmotoren. Zudem ist sie deutlich leiser.
Der Antrieb ist rein elektrisch. Den Strom liefert eine Batterie, die bei Bedarf von einem Dieselmotor geladen wird. Denn die Hybridlok muss auf den Rangiergleisen durch den Hafen fahren können, und die sind meist nicht elektrifiziert. Langfristig soll die Lokbatterie über das Stromnetz per 400-Volt-Steckdose geladen werden.
Der Energieverbrauch der Hybridlok ist nach Metrans-Angaben nur halb so hoch wie der von herkömmlichen Loks. Das Schienenverkehrsunternehmen Metrans ist der größte Energieverbraucher innerhalb des HHLA-Konzerns.