Hamburg. Brisante Unterlagen: Versicherungen sollen gedrängt haben, Krankheiten zu dramatisieren. Staatsanwaltschaft Hamburg ermittelt.
Der Skandal um die Krankenkassen, die Ärzte bei Patienten zu schwerwiegenderen Diagnosen als tatsächlich gegeben auffordern, weitet sich aus. Mehrere niedergelassene Mediziner aus Hamburg und Schleswig-Holstein haben sich beim Abendblatt gemeldet und beklagen, dass die AOK Nordwest Mitarbeiter in die Praxen geschickt habe, um die Codierungen von bestimmten Patienten zu „überprüfen“. Zwei weitere Krankenkassen werden von Ärzten ebenfalls in diesem Zusammenhang genannt.
Dabei ging es darum, dass die AOK zum Beispiel nahelegt, aus Alkoholkranken schwer Abhängige mit weiteren Störungen zu machen; aus Menschen, die Schmerzmittel bekamen, chronische Schmerzpatienten. Dem Abendblatt liegen dazu Unterlagen der AOK vor. Wörtlich heißt es darin etwa: „Kann die chronische Diagnose dauerhaft codiert werden?“ Und dann folgt eine mögliche Abrechnungsdiagnose. Die AOK schreibt dem Arzt auf, dass jeder Fall „einzeln individuell“ geprüft werden solle. „Streng vertraulich“ steht unter dem Hinweisblatt.
Laxer Datenschutz?
Die Ärzte beschweren sich darüber, dass die AOK-Mitarbeiter ohne Anmeldung in ihre Praxen kamen, zum Teil nicht einmal mit den Medizinern selbst, sondern nur mit den Mitarbeitern gesprochen haben. „Außerdem wird meines Erachtens der Datenschutz der Patienten sehr lax gehandhabt“, sagte ein Arzt, der nicht genannt werden wollte.
Die AOK Nordwest teilte mit, es habe bei Verordnungen und Abrechnungen „Unplausibilitäten“ gegeben. Die habe man mit Ärzten klären wollen. „Diese Beratungen erfolgen immer rechtskonform auf Basis unseres gesetzlichen Auftrages und des – der Aufsicht bekannten – Vertrages mit der Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein.“ Das Arzt-Patienten-Verhältnis werde respektiert.
Depression statt seelischer Verstimmung
Die Kassenärztliche Vereinigung verweist darauf, dass ein „Upcoding“ auf eine schlimmere Krankheit als festgestellt „verwerflich“ wäre. Kein Vertragsarzt sei verpflichtet, einen Kassenmitarbeiter zu empfangen, „da er in keiner Rechtsbeziehung zu Kassen steht“. Die KV warnte eindringlich vor den Folgen eines „Kränkermachens“ auf dem Papier.
Wer in seinen Arztunterlagen zum Beispiel eine chronische Erkrankung stehen hat, eine Depression statt einer leichten seelischen Verstimmung, dauerhaften Bluthochdruck statt kurzer Erkrankung, der kann erhebliche Schwierigkeiten bekommen, wenn er eine Lebensversicherung oder eine private Krankenversicherung abschließen möchte.
Dann wird die Krankengeschichte durchleuchtet, womöglich werden auch Risikozuschläge fällig. Außerdem könnte eine Versicherung einem ahnungslosen Patienten im Falle einer Berufsunfähigkeit unterstellen, er habe eine Vorerkrankung verschwiegen. Denn die Patienten wissen in der Regel nichts darüber, wie ihre Krankheit dokumentiert und abgerechnet wurde.
Die Staatsanwaltschaft Hamburg hat, wie berichtet, wegen dieser Vorwürfe offizielle Ermittlungen aufgenommen. Unterstützt von einem Experten für Betrug im Gesundheitswesen aus dem Landeskriminalamt. Die Staatsanwälte prüfen, ob und wer betrügt und ob Krankenkassen für ein „genaueres“ Codieren den Ärzten sogar Geld angeboten haben. Die Kassen weisen das von sich.
Kommentar: Fehler im System
Der Hintergrund dieses „Upcodings“ ist, dass die Kassen für bestimmte schwerkranke Patienten deutlich mehr Geld aus dem Solidarfonds bekommen, dem „Morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich“ (Morbi-RSA). Es kann sich also auszahlen, bei manchen Diagnosen die schlimmstmöglichen Fälle dokumentieren zu lassen.
Ausgelöst hatte die Ermittlungen der Vorstandschef der Techniker Krankenkasse, Jens Baas, der die Praktiken der AOK angeprangert hatte. Er sagte nun dem Abendblatt: „Die Diagnosestellung obliegt dem Arzt, niemandem sonst. Leider sind die Anreize im heutigen Finanzausgleich aber so, dass es einen Wettbewerb der Krankenkassen um Codierung gibt. Die jüngste Gesetzgebung hat das Problem zwar abgemildert, aber noch nicht wirklich gelöst.“ Baas meint das jüngste Heil- und Hilfsmittelversorgungsgesetz (HHVG).
Er schlägt vor, seltene Krankheiten mit hohen Fallkosten stärker zu berücksichtigen. „Wir brauchen ein Ausgleichssystem, das weitgehend immun ist gegen Einflussnahme von außen – auch im Interesse der Patienten.“
Die Patientenbeauftragte der Bundesregierung, Ingrid Fischbach, sagte: „Es ist gut so, dass der Gesetzgeber Regelungen verabschiedet hat, damit Krankenkassen Patienten nicht länger auf dem Papier kränker machen, um so mehr Geld zu bekommen. Dieses Geschäftsmodell sollte beendet sein. Aber ich werde es genau beobachten, damit nicht wieder zu Lasten der Solidargemeinschaft geschummelt wird.“