Hamburg. Einschulungsuntersuchungen zeigen: In Stadtteilen wie Wilhelmsburg oder Jenfeld leiden viel mehr Kinder an krankhafter Fettleibigkeit.

Fast 20 Prozent der angehenden Schulanfänger in Hamburg – jeder fünfte – hat Probleme mit dem Gewicht. Die Zahl der untergewichtigen Kinder im Alter von fünf und sechs Jahren nimmt in der Hansestadt sogar zu. Schon jedes elfte Kind wiegt bei der Schuleingangsuntersuchung zu wenig.

Das geht aus der Senatsantwort auf eine FDP-Anfrage hervor. Demnach brachten 8,8 Prozent der Kinder 2016 zu wenig Gewicht auf die Waage. Gleichzeitig ist etwas mehr als jedes zehnte Hamburger Kind in diesem Alter viel zu dick. Bei der Schuleingangsuntersuchung 2016 wurde bei 10,1 Prozent ein Übergewicht diagnostiziert, bei fast fünf Prozent aller Kinder in diesem Alter sogar eine Adipositas, eine krankhafte Fettleibigkeit. Jungen sind häufiger betroffen als Mädchen.

Allerdings schwankt die Verteilung der extrem übergewichtigen Kinder in Hamburg stark. In sozial schlechter gestellten Stadtteilen wie Wilhelmsburg, wo der Anteil zu dicker Schulanfänger sogar 11,45 Prozent beträgt, sowie in Billstedt (9,79 Prozent) sind viel mehr Kinder betroffen als in wohlhabenden Stadtteilen wie Sasel (0,87 Prozent), Poppenbüttel (0,36 Prozent) und Blankenese (0,64 Prozent).

Zu wenig Obst, zu viele Fertiggerichte

Professor Klaus-Michael Braumann, Chef des Instituts für Bewegungswissenschaft an der Universität Hamburg, können diese Zahlen nicht wirklich überraschen. Kinder von ärmeren und wenig gebildeten Eltern hätten ein deutlich höheres Fettsucht-Risiko. Sie essen zu wenig Obst, zu viele Fertiggerichte mit hohem, verstecktem Fettgehalt und trinken zu viele stark zuckerhaltige Getränke.

Wer als Kind schon viel zu dick ist, bleibt es oft ein Leben lang. Was in letzter Konsequenz die Sozialsysteme gefährdet. Die gesetzlichen Krankenkassen zahlen jedes Jahr rund 30 Milliarden Euro für die Behandlung übergewichtiger Patienten. Die Folgekosten für Frühverrentungen oder Krankheitstage sind noch höher.

Viel zu dick macht krank

Braumann treibt die kindliche Adipositas seit Jahren um. Bei einer ärztlichen Fortbildung im Saal der Patriotischen Gesellschaft warnte der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Sportmedizin und Prävention (DGSP) vergangene Woche vor den dramatischen Folgen. Viel zu dick macht krank. Altersdiabetes, hoher Blutdruck, Gelenkschäden, Fettleber, Hautprobleme, Gicht – die Liste der Krankheiten, die durch Adipositas begünstigt werden, ist lang. Hinzu kommen seelische Störungen wie Depressionen.

„Wir wissen, dass ein Großteil der Volkskrankheiten auf mangelnde Bewegung und Übergewicht zurückzuführen ist“, sagt auch Gesundheitssenatorin Cornelia Prüfer-Storcks. „Deshalb müssen wir schon bei den Kindern nicht nur darauf achten, was sie essen, sondern auch darauf, dass sie sich genügend bewegen. Die Kombination von zuckerhaltiger Ernährung und Stunden vor PC und Fernseher führt fast zwangsläufig zu gesundheitlichen Problemen.“

2011 initiierte die Gesundheitsbehörde mit dem Hamburger Sportbund (HSB) und der Ärztekammer das Projekt „Bewegung auf Rezept“, wo Ärzte die Teilnahme an zertifizierten Sportkursen verordnen können; die Krankenkassen beteiligen sich bis zu 80 Prozent an den Kosten. Klaus Schäfer, Allgemeinmediziner und Vize der Hamburger Ärztekammer, wirbt für dieses Projekt: „Prävention ist sehr viel effektvoller als das Bemühen um eine kostengünstige Therapie.“ Wobei (etwas zu) dick nicht zwingend unsportlich bedeutet. „Es gibt auch Kinder, die fett und fit sind“, sagt Braumann. Nur: Es sind Ausnahmen von der Regel. Wer sich mit Speckwülsten an Barren oder Reck versuchen muss, wird leicht zur Zielscheibe von Hänseleien, was Sport und Bewegung noch mehr verhasst macht – ein Teufelskreis.

Experte fordert Engagement der Eltern

Braumann plädiert für neue Konzepte im Sportunterricht. So könnten sich Kinder mit Übergewicht etwa bei einem Kampfsport wie Judo austoben: „Da stehen sie dann dank ihrer Masse wie ein Fels in der Brandung und haben auch mal ein Erfolgserlebnis.“ Der Schulsport könne die Probleme allerdings allein nicht lösen, auch in den anderen Fächern sollten Lehrer auf Bewegung setzen. Wenn Schüler zum Start der Mathestunde dreimal das Treppenhaus rauf und runter sprinten würden, koste dies zwar Unterrichtszeit. Aber das zahle sich aus: „Zahlreiche Studien belegen, dass Kinder, die sich mehr bewegen, im Unterricht mehr leisten können.“

Mitunter lohnt auch ein Blick in die USA, dem Mutterland der Fast-Food-Ketten. Für eine Studie wurde stark Übergewichtigen ein Beitragsnachlass bei der Krankenkasse in Aussicht gestellt, wenn sie per Schrittzähler nachweisen, dass sie mindestens 5000 Schritte jeden Tag zurücklegen – 95 Prozent der Befragten machten mit.

Das Prinzip „Gier schlägt Trägheit“ hält Braumann auch in Deutschland in modifizierter Form für denkbar. So könnten Krankenkassen Prämien an die Eltern zahlen, deren Kinder konsequent abnehmen. Denn ohne elterliches Engagement sei der Kampf gegen die Pfunde kaum zu gewinnen.