Hamburg. Bei einer Anhörung zur Armut berichten Sozialarbeiter über die Lebenswirklichkeit von vielen Familien in Hamburg.
Fast jedes vierte Kind wächst in Hamburg in Armut auf oder unterliegt einem Armutsrisiko, jedes fünfte Hamburger Kind lebt in einem Hartz-IV-Haushalt. Um diese rund 60.000 Kinder und Jugendlichen nicht aus dem Blick zu verlieren, haben die Linken bei einer Anhörung im Rathaus mehr als 20 Betreuungs- und Bildungseinrichtungen sowie gegen Armut kämpfenden Initiativen einen Rahmen geboten, über ihre Lage zu berichten, sich auszutauschen und Forderungen an die Politik zu formulieren. „Mit den Ergebnissen der Anhörung wird sich auch die Enquete-Kommission Kinder- und Jugendhilfe befassen“, sagte Linken-Politiker Mehmet Yildiz.
„Was mich mittlerweile am meisten erschreckt, ist die Tatsache, dass die Armut in manchen Stadtteilen einfach hingenommen wird“, sagte Rene Clair, der seit 25 Jahren als Straßensozialarbeiter in Neuwiedenthal tätig ist. „Nach dem Motto: Pech gehabt, einfach in die falsche Familie hineingeboren.“ Diese Kinder, sagt Clair, „kommen zur Welt und haben keine Chance.“
Kinder in Armut wollen nicht auffallen, ziehen sich zurück
Die Folgen, die er täglich sieht: „Die betroffenen Kinder und Jugendlichen ziehen sich zurück. Sie wollen bloß nicht auffallen, weil sie denken, sie seien selbst schuld an ihrer Situation.“ Rene Clair beobachtet ebenfalls eine Entsolidarisierung in der Gesellschaft und befürchtet: „Wenn dieses Verhalten zur Normalität werden sollte, wird die Stadt das nicht aushalten.“
Christin Stüwe vom Kinderhaus Alter Teichweg sagte: „In unsere Kita in Dulsberg kommen Familien aus allen Schichten, reiche und arme, dort findet sozusagen Inkulsion in alle Richtungen statt.“ Wie sie tägliche Armut erlebt? „Als Mangel an geeigneter Kleidung und ausgewogener Ernährung.“ Als Scham in den Familien über beengte Wohnverhältnisse und darüber, dass die Mittel fehlen, um ihre Kinder an Kultur oder Sport teilhaben zu lassen.
"Im Koalitionsvertrag kommt Kinderarmut nicht vor"
„Es gibt Vierjährige, die kein eigenes Bett haben.“ Es gebe Kinder, denen nie ein Buch vorgelesen werde. Kinder, die nur Dulsberg kennen. „Nicht den Michel, nicht den Hafen, geschweige denn einen Bio-Bauernhof vor den Toren der Stadt.“ Kinder, deren Eltern um die Existenz kämpfen. „Und vor allem Kinder, mit denen wenig gesprochen wird.“ Diese Kinder, die von ihren Eltern nicht die Welt gezeigt bekämen, „wissen wenig, kennen wenig, trauen sich wenig zu und haben ständig ein Gefühl der Ausgegrenztheit.“ Die Folgen, sagte Christin Stüwe, seien unabsehbar.
Die Forderungen der Experten an die Politik sind deutlich. „Der Senat muss das Problem der Kinderarmut klar benennen“, so der Alternative Wohlfahrtsverband SOAL. „In der Koalitionsvereinbarung kommt der Begriff Kinder- oder Familienarmut nicht vor, obwohl sie seit Jahren bei 20 Prozent liegt.“ Der Verband Kinder- und Jugendarbeit Hamburg (VKJH) fordert mehr Mittel für die offene Arbeit. „Sie leistet einen unverzichtbaren Beitrag zur Stärkung der Familien.“
Der bundesweit unstrittige personelle Mindeststandard von zwei hauptamtlichen Fachkräften pro Einrichtung werde in den 244 Hamburger Einrichtungen nur bei jeder zweiten erreicht. „124 verfügen über weniger als zwei Stellen, in 93 Einrichtungen steht noch nicht einmal eine volle Stelle zur Verfügung.“ Dadurch seien in der Mehrzahl weder Qualität noch Angebotsbreite zu gewährleisten.