Hamburg. Carsten Brosda, seit Februar in Hamburg für Kultur zuständig, macht ziemlich viel richtig. Dabei wollte er gar nicht in die Politik.

Die erste Reihe, das weiß jeder, der regelmäßig ins Theater geht, ist nicht immer erstrebenswert. Mal muss man den Nacken verdrehen, um vernünftig sehen zu können, mal erschließt sich das Bühnenbild nicht aus der Nähe, mitunter besteht die Gefahr, nass zu werden. Je nach Inszenierung eben. Aber dann gibt es eine Inszenierung jenseits der Bühne, oder vielmehr: eine Bühne direkt vor der Bühne, auf der sich manches über Macht und Gesellschaft beobachten lässt. Dort gilt: Je weiter vorn, desto wichtiger. Das hat Statusgründe, aber auch ganz pragmatische – zum Grußwort-Mikro ist es halt nicht mehr so weit.

„Ich setze mich nicht automatisch in die erste Reihe“, sagt Carsten Brosda und nimmt einen Schluck Cola. Die Light-Variante. Dass der Hamburger Kultursenator kein Mann der Eitelkeiten ist, zeigt die so nicht geplante Gesprächssituation: Brosdas Cola-Fläschchen balanciert auf einem windschiefen Tischchen in einer Ecke der Oberhafenkantine, der Senator, nicht von zierlicher Statur, klemmt sich vor den Kellergang zur Küche. Der Ort war sein Vorschlag, der Platz allerdings ist das, was man in einer Kneipe wohl den Katzentisch nennt. Zu schmal, zu eng, im Weg. Senatorabel geht anders, Carsten Brosda findet es lustig.

„Reingerutscht“ in die Politik

Damit, wie Politiker sich in der Öffentlichkeit präsentieren, hat er sich beschäftigt, lange bevor er selbst Senator wurde. Allerdings hatte das keine Karrieregründe, sondern wissenschaftliche: „Wie weit trägt die Theatermetapher zur Analyse politischer Inszenierung? Das war mein Thema in einem Forschungsprojekt an der Uni. Sehr spannend!“ Politische und mediale Inszenierung also, ausgerechnet – kann man so etwas praktisch anwenden, wenn man theoretisch viel darüber weiß? „Ich nicht, weil meine Performance-Qualitäten dafür nicht reichen“, sagt Brosda und lächelt selbstironisch. Er denkt schnell, und er spricht schnell, und natürlich setzt jemand, der als Redenschreiber gearbeitet hat, Pointen nicht unbewusst. Aber eine Pointe macht noch keine Koketterie.

Wer danach fragt, warum er denn überhaupt in die Politik gegangen sei, bekommt die zunächst verblüffende Antwort: „Bin ich ja gar nicht.“ Es sei „ein schleichender Prozess“ gewesen. Im Studium ein Praktikum in der Pressestelle des SPD-Präsidiums. Zu dem Zeitpunkt war Brosda noch kein Parteimitglied, aber „es gab eine emotionale Nähe“. Der erste Schröder-Wahlkampf hatte ihn begeistert. Nach dem Praktikum kam ein Angebot: halbtags für die SPD arbeiten, daneben promovieren – Brosda blieb in der Hauptstadt.

„Reingerutscht“, sagt er und zuckt gelassen mit den Schultern. Er wurde Referent in der SPD-Pressestelle und später Pressesprecher von Gesine Schwan, als sie 2004 Bundespräsidentin werden wollte. Seine spannendste Zeit in Berlin, findet er rückblickend, „ein sehr lustiger Ritt“. Die flapsige Untertreibung ist eine typische Brosda-Formulierung.

Plötzlich Senator: Reingerutscht durch Kompetenz

Carsten Brosda drängt sich nicht ins Scheinwerferlicht, aber wenn er schon mal drinsteht, füllt er die Position geradezu beispielhaft aus. Findet die richtigen Worte, trägt sie eloquent vor, wirkt interessiert, nahbar und im öffentlichen Auftritt trotzdem angemessen ernsthaft. Eine Kombination von Qualitäten, die sich in diesem Senat bei Andy Grote und Katharina Fegebank ganz ähnlich wiederfindet. Wobei Brosda, Jahrgang 1977, unter diesen dreien am ehesten wie der natürliche Anzugträger wirkt.

Einen politischen Mentor kann er nicht benennen. „Ich habe eher ein Interesse an Inhalten als an Personen“, erklärt Brosda das. „Aber dass ich schon so lange und so gerne mit Olaf Scholz zusammenarbeite, ist sicher kein Zufall.“ Es gibt die These, dass Frauen in die Politik gehen, weil sie die Welt verändern wollen, und Männer aus Geltungsdrang. An Brosda ist das so nicht zu beobachten. Eigentlich wollte er Zeitungsjournalist werden. Präzise formulieren. Das mag er. „Dass es am Ende wieder Politik wurde, ist eher ein Unfall.“

Wie er in Hamburg Senator wurde, passt dazu. Reingerutscht durch Kompetenz. Carsten Brosda, den Olaf Scholz erst im Frühjahr 2016 zum Staatsrat der Kulturbehörde ernannt hatte, musste zwangsläufig aus der zweiten Reihe die Initiative ergreifen, als die damalige Senatorin Barbara Kisseler durch ihre schwere Krankheit immer länger ausfiel. Pragmatismus sei das gewesen, sagt Brosda mit tiefer, trotz des Hangs zum Schnellsprechen angenehm ruhiger Stimme: „Die Kultur in Hamburg brauchte einen Ansprechpartner. Ich habe gar nicht lange darüber nachgedacht. Hatte jemand Redebedarf mit der Behördenleitung, musste er halt mit mir reden. Der Plan, auch mein persönlicher Plan, war ein anderer.“

Akten am Tage, Premieren am Abend

Im Oktober starb Barbara Kisseler, im Januar wurde Carsten Brosda als Kultursenator vorgestellt. Nun steht der Vater von zwei Töchtern, sieben und neun Jahre, häufiger im Rampenlicht als die meisten Senatskollegen, das bringt das Fach so mit sich. Akten am Tage, Premieren, Vernissagen, Festivaleröffnungen am Abend. Familienkompatibel sei der Job „eigentlich überhaupt nicht“. Also kommt es vor, dass – wie kürzlich beim Hamburger Theaterempfang in Berlin – der Senator sein angekündigtes Grußwort nicht hält, weil er zeitgleich in Hamburg den Schultermin einer Tochter wahrnehmen muss. Und wahrnehmen will. Übrigens nicht als gesellschaftliches Statement verkauft, sondern als Selbstverständlichkeit.

Spindoktor sei er ohnehin nie gewesen, sagt Brosda. „Ich glaube, das gibt es so in Deutschland gar nicht.“ Wenn doch mal, seien das eher Leute, die vor allem sich selbst nach außen vertreten. Ein Verhalten, das Brosda nicht liegt und das er auch an anderen nicht schätzt. Er wurde Redenschreiber. Eine Aufgabe, für die man die eigene Eitelkeit zurückdrehen muss. Man muss gut sein – aber ein anderer bekommt den Applaus. „Ich fand das beglückend“, behauptet Brosda, der vor allem für zwei Männer formuliert hat: Franz Müntefering und Olaf Scholz.

Der eine knorrig, den sie „das Herz der Partei“ nannten, der andere eher nüchtern und trocken. „Als Redner sind sie sehr unterschiedlich“, sagt Brosda diplomatisch. „Franz Müntefering hat keine Rede so gehalten, wie ich sie ihm geschrieben hab.“ Auch Münteferings heutige Frau Michelle hat als dessen Redenschreiberin einst entsetzt zusehen müssen, wie ihr Chef sich die Kernsätze herausklaubte. Olaf Scholz möchte ein Argument „durchkomponiert“ haben, „er hat die Reden, die wir oft intensiv zusammen erarbeitet haben, dann meistens auch so gehalten“. Keine Bewertung ist das, nur eine Beobachtung.

Brosdas Tag ist durchgetaktet

Was neben dem Amt und der Familie auf der Strecke bleibt? Freunde zu sehen, das sei manchmal ein Kampf. Es komme jedoch vor, dass sich nach Jahren Bekannte von früher meldeten, „die in der Zeitung gelesen haben, was ich jetzt mache“. Auf Facebook oder Twitter hätten sie das nicht lesen können, da ist der Senator, immerhin auch für Medien verantwortlich, nicht unterwegs. „Dafür habe ich keine Zeit“, lautet die knappe Erklärung. „Über Twitter denke ich nach. Aber was Freundschaften angeht, bin ich verdammt analog.“

Dass der Kulturgenuss funktionaler werde, bedauert Brosda. „Nino Haratischwilis Roman ,Brilka‘, 1300 Seiten – das ist jetzt ein Projekt, für das ich gern so viel Zeit hätte wie früher.“ Gibt es denn einen Kulturbereich, der ihm am Nächsten steht? „Traurige Männer mit Gitarren!“ Kurzes Grinsen. Kurzes Räuspern. Dann die staatstragendere Antwort: Literatur, Theater, Musik. „Niemand glaubt ja, dass es plausibel ist, dass ich von allem zwischen bildender Kunst und Schlager gleich viel verstehe.“

Immer neue Touristengruppen in Funktionsjacken verteilen sich derweil lautstark an die Tische der Oberhafenkantine, hinter dem Senatorenrücken werden die Bratkartoffelportionen im Akkord aus der Kellerküche geschickt. Brosda schaut amüsiert zu.

Sein Tag ist durchgetaktet. Niemals eine Rede, die er nicht gelesen hätte. „Ich produziere bei meinen Mitarbeitern wahrscheinlich eher das Müntefering-Gefühl.“ Sport morgens vor dem Frühstück, vor sechs geht es auf das Fahrrad im Keller, währenddessen laufen amerikanische Late-Night-Shows im Original. „Kann ich als Kultursenator jetzt nicht direkt operativ verwenden“, flachst Brosda, „aber es hält auch den Geist fit.“

Spott kann Brosda auch, aber er fühlt sich sanfter an bei ihm

In der Szene wird er respektiert – und gemocht. Verbindlich sei er, heißt es immer wieder, offen, loyal. Brosda genießt Respekt auch bei denen, die in Barbara Kisseler eine Art Idealsenatorin gesehen hatten. Sie, die gern spöttisch, ironisch, unterhaltsam war, wird von vielen auch menschlich vermisst; ihr Erbe anzutreten dürfte nicht ganz einfach gewesen sein. Spott kann Brosda auch, aber er fühlt sich weicher an bei ihm, sanfter. Nach Barbara Kisselers Tod, als der Erste Bürgermeister zunächst lange zögerte, die Position nachzubesetzen, ist offensiv für Carsten Brosda geworben worden.

Sein Hauptaugenmerk liegt nun auf der Euphorie: „Wie sichern wir dauerhaft all das, was die Elbphilharmonie mit der Stadt gemacht hat? Nüchtern betrachtet ist es eine Ausweitung des Angebots um mehr als 2000 Plätze pro Abend, emotional ist es viel mehr. Kultur denkt man bei Hamburg jetzt immer mit.“ Das gelte auch für den Senat, glaubt Brosda: „Hochgradig kulturell interessierte Kollegen“ habe er da. Das sah seine Vorgängerin deutlich anders und hat es gern auch spitz geäußert. Wo sind die also plötzlich alle aufgetaucht? „Ich bin vielleicht ein kulanterer Mensch als Barbara Kisseler und habe womöglich auch einen breiteren Kulturbegriff“, sagt Brosda und lächelt nachsichtig. Er treffe jedenfalls immer wieder Kollegen auf Veranstaltungen.

Neulich im Michel zum Beispiel. Brosdas Töchter sangen dort in einem Konzert, der Vater hatte eine Karte gekauft und saß, inkognito gewissermaßen, mit den anderen Eltern auf der Empore. „Und ich hatte wirklich Spaß, mir Schulsenator Ties Rabe von oben dabei anzugucken, wie er in der ersten Reihe sitzen musste.“ Was, wie jeder weiß, vielleicht der wichtigste Platz im Parkett ist. Aber nicht zwingend der beste.

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