Kein Bundesland hat so große Flächenanteile unter Naturschutz. Jetzt kommen noch 300 Hektar dazu.

Nach der Brücke kommt nur noch Wildnis. Urwald. Dickicht. Röhricht. Dschungelähnliche Zustände. Wie im Mangrovenwald, nur ohne Mangroven. Dafür kommendes und gehendes Wasser, Watt, Priele, umgestürzte Bäume, winzige Strände, 700 Pflanzenarten, Lunken und ein See­ad­lerhorst mit Brutpaar. Eben noch reichte der Blick über einen mäandernden Wasserlauf. Jetzt ist vor lauter Kraut kaum noch der Weg zu erkennen in einem der letzten Tideauenwälder Europas. „Das Heuckenlock ist einzigartig“, sagt Christian Michalczyk über die Rarität neben der A 1. „Vielleicht die letzte Wildnis, die wir in Hamburg haben.“

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Christian Michalczyk ist 52 Jahre alt, Biologe und schon mehr als 20 Jahre in der Umweltbehörde für Hamburgs Naturschutzgebiete zuständig. Das Heuckenlock am Ufer der Süderelbe ist nicht nur ein völlig unerwartetes städtisches Naturjuwel, es ist auch eines von 33 Naturschutzgebieten Hamburgs. Nun will die Umweltbehörde diese Zahl erhöhen. In den nächsten Monaten sollen in Volksdorf und Neuland zwei neue Naturschutzgebiete ausgewiesen werden. Senator Jens Kerstan (Grüne) sieht darin nicht nur einen Beitrag für die Umwelt, sondern auch für die Menschen: „Obwohl Hamburg wächst und dichter bebaut wird, sorgen wir dafür, dass die Lebensqualität erhalten bleibt.“

Dreimal soviele Naturschutzflächen wie Berlin

Kerstans Mitarbeiter Christian Michal-czyk ist zwar schon lange für die Naturschutzgebiete zuständig, aber immer noch begeisterungsfähig. Im Spülsaum des Heuckenlocker Elbufers entdeckt er einen Grasfrosch. Zuvor hatte er schon Reiherspuren im Morast ausgemacht und quasi im Vorbeigehen Baldrian bestimmt. Die Bedeutung der Schutzgebiete herauszustellen fällt ihm entsprechend leicht. „Das Heuckenlock etwa ist ein extrem wüchsiges Gebiet, reich strukturiert, dem steten Wandel von Ebbe und Flut ausgesetzt. Heimat von Kleinspecht, Teichrohrsänger und der seltenen Schachbrettblume. Wunderbar.“ Schutzgebiete im Allgemeinen, so der Experte, seien als vielfältige Lebensräume wichtige Oasen für die Stadtgesellschaft. „Sie bieten Lebensqualität.“

Die beiden neuen Schutzgebiete sind die Neuländer Moorwiesen im Süden und das Schutzgebiet Duvenwischen im Norden der Stadt, zusammen fast 300 Hektar groß. Während in Neuland das Wiesenvogelvorkommen „überregionale Bedeutung“ habe und die Flachgewässer und Gräben als Übergangsbiotope eine „herausragende Artenvielfalt“ unterstützen, handele es sich beim Volksdorfer Schutzgebiet um eine Mischung aus „hoch wertvollen Nass- und Feuchtwiesen sowie Laubwäldern“. Deren Lebensgemeinschaften sollen bewahrt werden. Wann die neuen Gebiete ausgewiesen werden, ist noch unklar. Eines soll aber noch in diesem Jahr seinen neuen Status erhalten.

Mit den zwei zusätzlichen Gebieten erweitert Hamburg seine unter Schutz stehende Naturfläche auf mehr als 7100 Hektar – fast zehn Prozent des Stadt­gebiets. „Kein anderes Bundesland hat einen größeren Anteil seiner Landes­fläche unter Naturschutz stehen“, sagt Umweltsenator Jens Kerstan. „Auf diese Position und auf die Artenvielfalt in unseren Naturschutzgebieten können wir gern ein wenig stolz sein.“

Tatsächlich werden den ältesten Schutzgebieten der Stadt, dem Heuckenlock und dem Duvenstedter Brook, fast 80 Jahre später nochmals weitere große Naturareale zur Seite gestellt. Dass bei Flächenländern wie Niedersachsen der Hamburger Naturschutz­anteil nur schwerlich erreicht werden kann, liegt dabei auf der Hand. Ein Vergleich mit den Stadtstaaten macht die Dimension deshalb besser deutlich: Berlin etwa hat zwar 40 Naturschutzgebiete, aber mit gut 2000 Hektar nur 2,3 Prozent seiner Fläche unter Schutz gestellt. Damit erreicht die Hauptstadt nicht einmal ein Drittel des gesamten Hamburger Naturschutzgebiets. Auch Bremen besitzt mehr als 2000 Hektar Naturschutzgebiet, die 20 Flächen machen an der Weser aber auch nur knapp fünf Prozent des Stadtstaates aus.

Mischung aus Dschungel und Nordsee

Im Hamburger Heuckenlock, formschön ins Stromspaltungsgebiet der Elbe geschmiegt, hat Christian Michal-czyk nicht nur Seeadler und Pirol ausgemacht. An einem kleinen Strand mit schräg zum Wasser neigenden Weiden findet der Biologe auch eine botanische Extrararität: die Wiebelschmiele. Mit dem weltweit bekannt gewordenen Schierlings-Wasserfenchel hat diese recht unauffällige Pflanze auf dem gesamten Erdball nur noch in Hamburg geeignete Pionierstandorte. Das tide­beeinflusste Süßwasser an den Elbufern biete mehr als nur Schlick. „Einen solchen Lebensraum“, so Michalczyk, „findet man an anderen europäischen Flüssen nur noch extrem selten.“

Im weit verzweigten System aus Prielen und Wasserlöchern, ohne Bewuchs eher an der Nordsee typisch, liegt zudem die Kinderstube der meisten Fischarten Hamburgs. Finte, Rapfen oder Neun­augen wachsen hier heran. Die merklich große Zahl von Insekten komplettiert diesen letzten Teil städtischer Wildnis.

Im Auenwald: Christian Michalczyk von
der Umweltbehörde
Im Auenwald: Christian Michalczyk von der Umweltbehörde © HA | Roland Magunia

Damit diese Gebiete weitestgehend naturnah bleiben, sind vier Ranger im Auftrag der Stadt in den 33 Naturschutzgebieten unterwegs. Bis auf die Elbinsel Neßsand können aber alle Hamburger Naturschutzgebiete auf dafür vorgesehenen Wegen betreten werden. „Im Heuckenlock empfiehlt sich ein Blick in den Tidekalender und auf die Wettervorhersage“, sagt Christian Michalczyk. „Etwa 100 Tage im Jahr kann der Weg wegen Hochwassers nicht benutzt werden.“ Der Name „Heuckenlock“ entstand übrigens aus der plattdeutschen Bezeichnung für Priel (Lock) und dem Namen der Fischerfamilie Heucke, die am Ende des Hauptpriels wohnte. Daraus wurde im Lauf der Zeit Heuckens Priel, also Heuckenlock. Auf profane Wege war die Familie natürlich nicht angewiesen. Sie schipperte mit dem Boot durch Heuckens Lock.