Hamburg. Zwei Erzieherinnen berichten über die Missstände in der „Rotzlöffel-Republik“. Pädagogen können Erwartungen oft nicht erfüllen.
Wenn Tanja Leitsch und Susanne Schnieder aus ihrem Kitaalltag berichten, geht es um überlastete Pädagogen, um Dokumentationswahn, um Eltern, die nicht erziehungsfähig sind, und um Kinder, die unter all dem zu leiden haben. Die Erzieherinnen benennen in ihrem Buch „Die Rotzlöffel-Republik“ die Missstände in den Einrichtungen und warnen: Kindertagesstätten seien Betriebe, in denen es mehr um Ideologien geht, in denen Erzieherinnen zulasten der Kinder ausgebeutet werden.
Curtis-Bo ist drei Jahre alt. Seine Mutter kam eines Morgens auf die Erzieherin zu und sagte: „Ich möchte, dass Sie sich jeden Morgen vor Curtis-Bo hinknien, wenn Sie ihn begrüßen.“ Warum? „Die Erzieherin hätte ihrem Sohn gefälligst auf Augenhöhe zu begegnen, also sei es ja wohl vollkommen selbstverständlich, dass sie vor Curtis-Bo auf die Knie falle“, schreiben die beiden in ihrem Buch. Oder das kleine Mädchen, das nur dann ihr großes Geschäft in der Kita verrichten kann, wenn eine Erzieherin danebensitzt und ihr etwas vorliest – das hatte die Mutter eingefordert. Klingt alles absurd? Ist aber alltäglicher Kitawahnsinn.
Wunschvorstellungen der Eltern
Tanja Leitsch, Diplom-Pädagogin und systemischer Coach, hat sechs Jahre lang als Erzieherin gearbeitet. Gemeinsam mit ihrer 50 Jahre alten Kollegin Susanne Schnieder packt die 39-Jährige jetzt aus. Ihnen ist es lieber, nicht zu nennen, wo sie arbeiten. Nestbeschmutzer können es schwer haben.
Was läuft falsch? „Politische Vorstellungen und Wunschvorstellungen der Eltern prallen aufeinander im realen Kitaalltag“, sagt Tanja Leitsch. Die Pädagogen seien Erwartungen ausgesetzt, die sie unter den derzeitigen Bedingungen nicht erfüllen könnten. „Wir sollen Erziehungs- und Lebensberatungsstelle, Psychotherapeuten und vieles mehr sein“, heißt es. Was Erzieher so stark belastet, ist der Dokumentationswahn und der viel zu geringe Personalschlüssel: Laut Bertelsmann-Stiftung sind es im Schnitt 9,3 Kinder pro Erzieher.
Noch eine Zahl: 1789 Kreuze müssen Kitamitarbeiter auf den Blättern eines der vielen Qualitätssysteme machen, um den Pflichten der Qualitätskontrolle nachzukommen. „Was hat das Kind gegessen? Wann hat es wie viel getrunken? Wie oft wurde es gewickelt? Welchen Stuhlgang hatte das Kind?“ Dabei bliebe die Arbeit am Kind auf der Strecke.
Mit dem Kind der Heiland geboren
Und auch die Arbeit mit dem Kind hat es in sich. Die Bandbreite an Herausforderungen ist groß: Da gibt es Kinder, die verwahrlost sind und hungrig in die Kita kommen, ebenso die Kinder, die überbehütet werden, nach einem anstrengenden Acht-Stunden-Kitatag noch zum Ballett und Fußball müssen. Kinder, die der Mittelpunkt im Leben ihrer Eltern sind. „Man kann wirklich sagen: Uns ist an diesem Tag unser Heiland geboren“, sagt zum Beispiel Majas Mutter.
Dieser Tanz ums goldene Kind ist für die Erzieherinnen nicht zum Lachen. Sie haben es mit Eltern zu tun, die sie als erziehungsunfähig einstufen. Die ängstlich und überfordert sind und ihren Kindern keine Grenzen setzen können. „Diese Väter und Mütter haben große Probleme im Umgang mit ihren Kindern und sind selbst beratungsresistent“, schreiben die Autorinnen. „Sie geben die Verantwortung für die Erziehung an uns ab“, so Susanne Schnieder.
Einfachste Benimmregeln unbekannt
Viele Kinder kennen die einfachsten Benimmregeln gar nicht, sind zwischen drei und sechs Jahren noch nicht trocken. Die Hygieneerziehung, meinen viele Eltern, sei Kitasache. Hinzu kämen Personalnot, Lärm, wenig Anerkennung für ihren Beruf und Überlastung – kein Wunder, dass der Krankenstand unter Erziehern besonders hoch ist. Tanja Leitsch hat selbst zwei Hörstürze erlebt sowie eine Hörminderung.
Das hört sich alles ein wenig lamentierend an. Dabei lieben die beiden die Arbeit mit Kindern. „Es ist faszinierend, was Babys für Entwicklungen durchmachen. Das hautnah zu erleben ist wunderbar“, sagt Tanja Leitsch. Und doch sagen beide Pädagoginnen: „Mit unserem Buch geht es uns um Kindeswohl und Kinderschutz. Es muss sich dringend etwas ändern, um den Kindern gerecht werden zu können.“
Kitas können Eltern nicht ersetzen
Sie fordern unter anderem kleinere Gruppen – eine Erzieherin sollte mit fünf bis sechs Kindern arbeiten, größere Räume, kostenfreies Mittagessen für die Erzieher und eine bessere Bezahlung sowie Erholungszeiten. Und dann sagt Tanja Leitsch: „Es muss ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, dass Kitas Betriebe sind, die Eltern und Familie nicht ersetzen können.“ Sie würde ihr Kind erst mit dreieinhalb Jahren in die Kita geben.
Die Rotzlöffel-Republik, Verlag Ecowin,
20 Euro