Hamburg. Die Karriere des SPD-Bundestagsabgeordneten aus Eimsbüttel begann mit Protesten vor dem Haus von Henning Voscherau. Ein Porträt.
Niels Annen ist in weltweiten Krisenzeiten wie diesen ein gefragter Politiker. Kaum liefen die Online-Berichte über das Scheitern der Verhandlungsmission von Bundesaußenminister Sigmar Gabriel (SPD) in der Türkei über den Luftwaffenstützpunkt Incirlik, da meldete sich schon die erste Redaktion bei dem außenpolitischen Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion. „Dann hat man 15 Minuten Zeit, ein Statement zu formulieren, sonst kommt man nicht vor“, sagt Annen lapidar.
Dass der 44 Jahre alte Historiker, direkt gewählter Bundestagsabgeordneter des Wahlkreises Eimsbüttel, gut vorbereitet ist, liegt nicht zuletzt daran, dass er längst Teil der deutschen Außenpolitik ist und zum Außenminister, der ja sein Parteifreund ist, einen kurzen Draht hat. Klar, dass Gabriel ihn per SMS an dem Wochenende auf dem Laufenden gehalten hat. „Dass es nicht zu einer Einigung mit der Türkei kommen würde, war ja absehbar. Das war gewissermaßen eingepreist“, sagt Annen.
Mit Frank-Walter Steinmeier verbindet Annen viel
Deswegen ging es dann zwischen Gabriel und ihm schnell um die Frage, ob nun der Bundestag über die absehbare Verlegung der Aufklärungsflugzeuge nach Jordanien entscheiden müsse. „Wir brauchen kein neues Mandat. Wir sollten aber auf jeden Fall den Bundestag damit befassen“, befand Annen. So brach die Weltpolitik über den Abgeordneten herein, der sich eigentlich ein freies Wochenende gegönnt hatte und auf dem Balkon seiner Eimsbütteler Wohnung in der Sonne saß.
Annen ist ein freundlicher, eher zurückhaltender, ja fast bedächtiger Mann, der häufig eine kleine Pause einlegt und über eine Formulierung nachdenkt, ehe er weiterredet. Annen kann, wenn er die Krisen der Welt und die Anstrengungen der Diplomatie erläutert, in den typischen Beschwichtigungssound deutscher Außenpolitiker verfallen. Er klingt dann nicht viel anders als zum Beispiel der heutige Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) in seiner Zeit als Außenminister. Mit Steinmeier verbindet Annen nach wie vor viel.
Beinharter Streit um die Agenda 2010
Wer den SPD-Mann entspannt in seinem schlichten Eimsbütteler Wahlkreisbüro erlebt, wo außer einem Martin-Schulz-Aufsteller auch Plakate von Willy Brandt und sogar Ex-SPD-Chef Franz Müntefering aufgehängt sind, kann sich schwer vorstellen, dass er einst kaum einem politischen Streit aus dem Weg ging. Schon gar keinem innerparteilichen. Annen war von 2001 bis 2004 Juso-Bundesvorsitzender und kämpfte trotz seiner jungen Jahre in vorderer Linie gegen die Agenda-Politik des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder (SPD).
„Ich bin stark geprägt durch den beinharten Streit um die Agenda 2010. Heute sehe ich manches differenzierter“, sagt Annen, nach wie vor ein bekennender linker Sozialdemokrat. „Ich kann heute den Druck verstehen, den Schröder hatte. Aber Schröder und Wolfgang Clement wollten die Partei damals auch entkernen und Leute wie uns rausgraulen.“ Das klingt noch immer bitter.
2005 kam es anders
Die Agenda-Politik, die die SPD an den Rand der Spaltung führte, sorgte auch für die größte Niederlage im Leben des Politikers Niels Annen – zumindest indirekt. Er war als direkt gewählter Abgeordneter für den Wahlkreis Eimsbüttel 2005 in den Bundestag gezogen. Alles sah danach aus, dass Annen wieder aufgestellt würde, doch es kam anders.
Der bis dahin weithin unbekannte Juso-Vorsitzende Danial Ilkhanipour setzte sich in der Wahlkreis-Delegiertenversammlung der SPD Eimsbüttel im November 2008 hauchdünn mit einer Stimme gegen den etablierten Annen durch. Ilkhanipour und eine Reihe gewiefter Mitstreiter aus dem Lager Mitte-rechts-orientierter Jusos hatten sich den linken Vorkämpfer mit durchaus robusten Methoden gezielt für eine Machtprobe ausgesucht.
Masterabschluss in den USA
„Ich werde bis heute darauf angesprochen, aber für mich ist die Sache abgeschlossen“, sagt Annen. „Unmittelbar danach war es nicht einfach, da soll man sich nichts vormachen.“ Es war ein tiefer Sturz, denn Annen war Berufspolitiker. Und da war noch etwas: Immer wieder, auch parteiintern, war ihm vorgeworfen worden, dass er sein Geschichtsstudium nicht abgeschlossen hatte, obwohl er das schon 2005 versprochen hatte. Schlimmer noch: Er hatte das Studium nach 14 Jahren abgebrochen, nachdem er durch die Latinum-Prüfung gefallen war.
Aus dieser doppelten Misere zog Annen eine Konsequenz: Er nutzte die Zeit, um an der Berliner Humboldt-Universität den Bachelorabschluss nachzuholen, für den keine Lateinprüfung erforderlich ist. Und in der US-Hauptstadt Washington D.C. machte Annen 2011 seinen Master in Internationalen Staatswissenschaften. Da war er 38 Jahre alt.
„Es gab die Überlegung, mit der Politik aufzuhören“, sagt Annen heute. Doch zwei Jahre später zur Bundestagswahl 2013 war ein geläuterter Annen wieder da. Zwei Faktoren spielten dabei eine Rolle: Widersacher Ilkhanipour war bei der Bundestagswahl 2009 krachend gescheitert und landete auf dem dritten Platz hinter der Grünen Krista Sager – eine Schmach für die erfolgsverwöhnte SPD. Der Platz war also wieder frei.
Ebenso wichtig ist die Tatsache, dass Annen ein erfolgreicher Netzwerker ist. Die Zeit als Chef der Jusos und Frontmann der Parteilinken bescherte ihm Kontakte zu Sozialdemokraten quer durchs Land. Und so wurde er auch ohne Mandat in den Parteivorstand wiedergewählt, dem er seit 2003 angehört. „Politik ist am Ende eine wenig sentimentale Angelegenheit“, sagt Annen. Das soll heißen: Ewig hätten seine Parteifreunde ihn nicht in der Parteispitze gehalten.
Karriere mit Turbo
Annen setzte sich durch, holte das Direktmandat in Eimsbüttel zum zweiten Mal und zog wieder in den Bundestag ein. Es folgte eine Karriere mit Turbo, denn schon 2014 wurde er außenpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion. So ist Annen gelungen, was nicht vielen gelingt in der Politik: ein Comeback.
Außenpolitik war Annens Leidenschaft, seit er am Ende der Schulzeit – Abitur machte er an der Peter-Petersen-Gesamtschule in Wellingsbüttel, heute Irena-Sendler-Stadtteilschule – für sechs Wochen nach Nicaragua ging. Dass aus der von Linken weltweit einst stürmisch begrüßten sandinistischen Revolution eine von Vetternwirtschaft geprägte Diktatur geworden ist, bezeichnet Annen als „sehr große politische Enttäuschung in meinem Leben“.
Es begann mit Protest vor Voscheraus Haus
Apropos Netzwerk: Seinen außenpolitischen Ambitionen kommt bis heute zugute, dass er 2000/2001 Vize-Vorsitzender der internationalen Union sozialistischer und sozialdemokratischer Jugendorganisationen (IUSY) war. Einige seiner damaligen Weggefährten bekleiden heute hohe Regierungsämter von Chile bis zur EU. „Das Netzwerk ist unglaublich“, sagt Annen. Übrigens: Olaf Scholz war einer von Annens Vorgängern, Europa-Staatsrat Wolfgang Schmidt sein Nachfolger.
Man kann Annens politischen Werdegang als eine fortschreitende Annäherung an die Realpolitik beschreiben. Revolution war eben früher. „Manchen Linken bei uns gelte ich heute als rechts – was natürlich Unfug ist“, sagt er selbst. Aber er plädiert – ganz Diplomat – nun einmal für immer neue Gesprächsversuche auch mit schwierigen Partnern wie dem Nato-Mitglied Türkei. Für manche SPD-Linke ist die Nato nicht gerade die Lieblingsorganisation. Annen ist heute stellvertretender Sprecher der Parlamentarischen Linken der SPD-Fraktion. „Die Strömungen in der SPD sind mehr politische Clubs, aber manchmal gibt es auch machtpolitische Auseinandersetzungen.“ Da blitzt doch wieder die Lust an der politischen Attacke auf.
Angefangen hat alles übrigens Anfang der 90er-Jahre, als Niels Annen Vorsitzender der Schülerkammer war. Einmal zog er frühmorgens mit Mitstreitern vor das Haus des damaligen Ersten Bürgermeisters Henning Voscherau (SPD), um gegen „Bildungsabbau“ zu demonstrieren. „Meister Henning, schläfst du noch?“, sangen die Schüler lautstark. „Das war nicht so nett vor seinem Haus“, sagt Annen heute mit der gewissen Milde des Angekommenen. Die Perspektiven haben sich verändert.