Hamburg. Der Hamburger bewahrt mit der Crew der „Sea-Eye“ 500 Menschen vorm Ertrinken. Darunter ein Dreijähriger aus Nigeria.

Im Sommer 2005 steuert ein Schiff der „Aida“-Flotte durch das Mittelmeer nach Malta. Die Musik dröhnt, es wird getanzt, geschlemmt, getrunken, die Deutsche Vermögensberatung hat ihre Mitarbeiter zur Party eingeladen. An Bord: Gorden Isler, 23, Vertriebsberater aus Hamburg.

Zwölf Jahre später, im Mai 2017, stampft die „Sea-Eye“, ein 60 Jahre alter, zum Rettungsschiff umgebauter Fischkutter vom maltesischen Hafen Valletta zur libyschen Küste. Die Kojen winzig, nur eine Toilette, eine Dusche für zehn Mann Besatzung. Wieder ist Isler an Bord. Sein Auftrag: Menschen retten. Die Mittagssonne brennt, als die Crew vier überfüllte Gummiboote mit Flüchtlingen entdeckt. 500 Menschen rufen um Hilfe, zwei der Boote verlieren Luft, die Menschen, seit zwölf Stunden auf dem Wasser, haben Todesangst, Hunger und Durst.

Nur medizinische Notfälle evakuiert

Isler weiß, dass jetzt der gefährlichste Teil beginnt. Mit dem Schlauchboot „Charlotti 2“ steuert er die Flüchtlinge an, wirft Trinkwasserflaschen und Rettungswesten in die Boote mit verzweifelten Menschen. Und doch muss Isler alles versuchen, damit sie auf ihren Booten bleiben, die „Sea-Eye“, 23 Meter lang, sechs Meter breit, wäre viel zu klein, um alle aufzunehmen. „Ein Schiff der Marine ist unterwegs, es wird euch alle retten, haltet durch“, ruft Isler den Flüchtlingen immer wieder zu.

Evakuiert werden dürfen nur medizinische Notfälle, Kinder und deren Eltern. Isler entdeckt auf einem Boot einen kleinen, wohl dreijährigen Jungen. Er zieht ihn hinüber ins Schlauchboot, umklammert ihn fest: „Als der Kleine mich anlächelte, musste ich weinen.“ Der Kapitän erlaubt, dass auch die Schwester und die Eltern auf die „Sea-Eye“ dürfen.

Erste große Reise führte nach Äthiopien

Um zu verstehen, warum Isler solche Missionen macht, muss man an den Anfang der Geschichte zurück. Auf die „Aida“. Damals, in jenem Sommer 2005, kamen Gorden Isler Zweifel, ob die Champagner- und Häppchen-Welt noch die seine ist. Isler kündigte, machte sich selbstständig und gründete den Verein „Hamburger mit Herz“, um Menschen in Entwicklungsländern zu helfen. Die erste große Reise führte Isler nach Äthiopien, wo der Verein eine zerfallene Dortschule wieder aufbauen wollte. Isler lernte dort das herzkranke Mädchen Tiruye kennen, das dringend operiert werden musste.

Binnen sechs Wochen sammelte „Hamburger mit Herz“ 25.000 Euro für die Operation im Deutschen Herzzen­trum Berlin. Tiruye erhielt eine Herzklappe, wird aber für den Rest des Lebens auf Medikamente und Blutdruckmessungen angewiesen sein – undenkbar in einer Hütte ohne Strom. Tiruye darf bei ihrem Onkel in Berlin bleiben. „Bald wird sie ihren Schulabschluss machen“, sagt Isler stolz.

Er sah einen alten Mann sterben

Dass er nun Flüchtlinge im Mittelmeer rettet, liegt vor allem an einem Foto, das im September 2015 die Welt erschütterte. Es zeigte den kleinen Aylan Kurdi, bekleidet mit einem roten T-Shirt und einer kurzen blauen Hose, an einem türkischen Strand. Der syrische Junge war auf der Flucht ertrunken. Isler bewegte das Foto so sehr, dass er sich trotz fehlender See-Erfahrung bei zivilen Rettermissionen bewarb.

Nach mehreren Absagen („Wir brauchen hier Profis“) nahm ihn die „Minden“, ein Seenotkreuzer der gemeinnützigen Organisation Lifeboat, schließlich als Helfer an Bord. „Wir haben dort Kinder aus dem Meer gerettet, die so schwer verletzt waren, dass man es kaum ertragen konnte“, sagt Isler. Er beobachtete im Suchscheinwerfer, wie ein alter Mann starb.

Zu helfen sei ein Gebot der Humanität

Gemessen an dieser ersten Mission verlief die Fahrt mit der „Sea-Eye“ glimpflich. Das Marineschiff konnte alle Flüchtlinge retten. Die nigerianische Familie hat in Rom Unterschlupf gefunden, über Facebook hält Isler Kontakt. Ob sie in Europa bleiben kann, ist offen. Der Vater, sagt Isler, sei als Gastarbeiter in Libyen mehrfach bedroht worden; die Flucht zurück nach Nigeria wäre ebenfalls lebensgefährlich gewesen.

Natürlich kennt Isler das Argument der Gegner solcher Missionen, die Retter würden sich zu Partnern krimineller Schlepper machen. Isler hält es für absurd: „Die Menschen sind so verzweifelt, dass sie Folter und Zwangsprostitution bei ihrer Flucht riskieren. Die machen das doch nicht in der vagen Aussicht auf ein Rettungsboot.“ Zu helfen sei ein Gebot der Humanität.

Bald wird Isler mit seiner Frau und der dreijährigen Tochter Urlaub auf Malta machen. In einem einfachen Apartment. Mit Kreuzfahrer-Luxus, sagt er, könne er nicht mehr umgehen.