1400 Flüchtlinge sind psychisch krank - bislang wird nur einem Viertel der Betroffenen therapeutisch geholfen. Mit großen Risiken.
Der Geist ist so echt, dass Aman* (17) ihn anfassen will. Vier Schritte vom Bett in der Unterkunft an die Wand gehen, ihn umarmen, irgendwie zurückreißen ins Leben. „Dann läuft mir die Angst runter“, sagt Aman, Tränen schießen dem Afrikaner in die Augen, er quetscht ein Taschentuch. „Dass der Geist mit mir spricht, jede Nacht. Dass er mich draußen besuchen kommt.“
Aman hockt an einem gelbgrünen Rundtisch, Sarah Inal macht Notizen. Die Therapeutin hat übergroße Deko-Blätter, Kuscheltiere, ein Schlagzeug und Gitarren in ihrem Büro. Jedes Gespräch in der Traumambulanz der Stiftung „Children for Tomorrow“ hängt an Spenden. Sie treibt Geld für Dolmetscher und Fachpersonal auf, in diesem Jahr reichte es für 350 Therapieplätze. Es könnten doppelt, vielleicht dreimal so viele Patienten sein, wenn die Mittel da wären. „Fast alle jungen Flüchtlinge sind belastet, sie brauchen einen Anker“, sagt Sarah Inal.
Aman hat seinen Bruder verloren. Ihn ertrinken sehen. Er machte einen falschen Schritt an Bord eines alten Fischerboots, glitt aus dem Pulk von 400 Flüchtlingen über Bord. Das Meer nahm keine Notiz, das Boot rauschte ungebremst. „Er war in Sekunden weg, als hätte es ihn nie gegeben“, sagt Aman. Nur sein Gespenst ist geblieben. Es trägt dasselbe Baumwollhemd ihrer letzten gemeinsamen Stunden. Aman hat in Hamburg acht Monate auf den Termin bei Sarah Inal gewartet.
Stabilisieren, das ist die erste Aufgabe. Waffen mitzugeben gegen plötzliche Impulse, die Patienten von innen übernehmen. „Traumata zeigen sich meist in Depression und Rückblenden, seltener in Aggression“, sagt die ärztliche Leiterin Areej Zindler. Werden sie nicht behandelt, wuchern die Symptome, Fachleute sprechen von „Dekompensation“. Von Angstzuständen, plötzlicher Wut, Halluzinationen, tiefer Verzweiflung, in einigen Fällen bis zu einer Suizidgefahr. An so etwas wie Integration kann Aman nicht denken, er schläft kaum noch, er fühlt sich taub, wie unter einer Käseglocke.
Mindestens ein Drittel der Flüchtlinge bringt nach Einschätzung aller Fachverbände diese Risiken mit. Äußerlich sind sie gesund (siehe Text rechts), meist junge Männer, kaum Gebrechen. Nach einer Auswertung der AOK Bremen für das Abendblatt sind Flüchtlinge günstige Patienten, kosten die Kassen pro Kopf und Jahr 800 Euro weniger als Normalversicherte (siehe unten).
Doch für die psychischen Leiden fühlt sich bislang kaum jemand zuständig. „Wir betreuen Patienten, die maximal 21 Jahre alt sind. Wer älter ist, bekommt in Hamburg fast nichts“, sagt die ärztliche Leiterin Areej Zindler. Wäre Aman einige Jahre älter, wäre er weiter allein auf der Flucht vor der Vergangenheit. Psychologen scheuen die Behandlung, die Patienten sind überfordert, die Stadt greift nur zaghaft ein. Und die Rechnung für das Sozialwesen droht zu kippen.
Die Kliniken müssen psychisch Kranke vertrösten
Der Flüchtling Abdul Hany* kann den Verfall in seinem Zimmer sehen. Er lebt seit vier Monaten mit Mohammed aus Afghanistan in einer Folgeunterkunft in Bergedorf, beide tragen kurze Haare, Bartpflaum, bedruckte T-Shirts aus dritter oder vierter Hand. Wenn Besuch kommt, kochen sie; Rinderhack, Tomaten und Knoblauchsauce, Mohammed lächelt viel und reicht Cola an. Wenn die Nacht kommt, zuckt Mohammed wild, brüllt Namen, weint, kreischt. Ihre Pritschen trennt ein armdicker Spalt.
„Was soll ich machen? Ich bin Zahntechniker“, sagt Abdul Rany, als versuche er, etwas Lustiges daran zu finden. Mohammed haben die Bilder in seiner Heimat verflucht. Dreimal waren sie im Krankenhaus, als es ganz schlimm war, er wollte sich umbringen. Nach einer Nacht hätten sie beide wieder nach Hause geschickt. Sie gingen zu Psychoambulanzen, bei Asklepios und im UKE, Mohammed hat nun Tabletten, die ihn ruhiger und duselig machen.
Die Psychotherapeuten in den Krankenhäusern waren vor den Flüchtlingen schon gefordert, nun hadern einige mit ihrer eigenen Berufsethik. „Man braucht bei ernsthaften Belastungen eine echte Therapie im Wochenrhythmus, alles andere ist eher Glücksspiel“, sagt ein erfahrener Psychotherapeut.
Die Flüchtlinge bekommen derzeit nur eine Diagnose, oft auf Angststörung oder Depression. Bei 1432 Flüchtlingen in Hamburg registrierte die zuständige AOK Bremen Traumata und psychische Erkrankungen, davon bis zu 500 Menschen mehrfache Störungen. Beratungsstellen inner- und außerhalb der Unterkünfte gibt es genügend.
Sie können sich aber nur um einen Therapieplatz bemühen. „Man hat sehr schwere Fälle dabei, denen man sagen muss: Komm in sechs Wochen wieder, vielleicht sieht es dann besser aus“, sagt der Insider. „Strecken“, nennen sie das auf der Station.
Die Stadt verweist darauf, dass Flüchtlingen der Weg zu jedem niedergelassenen Therapeuten offensteht: „Es ist beabsichtigt, dass für Flüchtlinge keine Parallelstrukturen geschaffen werden“, sagt Rico Schmidt, Sprecher der Gesundheitsbehörde. Mit einem Antrag können die Therapie und der nötige Dolmetscher erstattet werden.
Nur jeder vierte Erkrankte erfährt therapeutische Hilfe
Nach Abendblatt-Recherchen wurden im vergangenen Jahr 353 Flüchtlinge in der Betreuung der AOK Bremen von einem niedergelassenen Therapeuten behandelt, also nur jeder Vierte, bei dem eine Diagnose vorliegt. „Es gibt Unsicherheiten der Therapeuten“, sagt Mike Mösko, Migrationsexperte der Psychotherapeutenkammer. Wo man ansetzen soll, wer den Dolmetscher bezahlt, wie der Versicherungs- und Asylstatus der Asylbewerber ist. „Flüchtlinge sind teils so belastet, dass es die Skala des Alltäglichen sprengt“, sagt Mösko.
Auch Sarah Inal läuft bei der Vermittlung gegen eine Wand: Sehr häufig hat sie Fälle, in denen die Eltern der Patienten dringend professionelle Hilfe brauchen. Das Gefühlsleben dieser Erwachsenen war im Tunnel, sie schützten ihre Kinder in der Heimat und auf der Flucht. Im sicheren Hamburg bricht ihre Rolle. Inal kontaktiert dann ihre Kollegen, versucht zu helfen. „Aber es ist sehr schwierig“, sagt Sarah Inal, manchmal gibt es gar keine Antwort.
Dabei drängt die Zeit, auch für die Stadt. Ohne intensive Hilfe kommt es zu häufigeren Notfällen, sagt Areej Zindler. Eine Nacht im Krankenhaus kostet die Gesundheitskasse mindestens 500 Euro, so viel wie zwei bis drei Monate ambulante Therapie in der Traumaambulanz von „Children for Tomorrow“. Zuletzt versuchten innerhalb von zehn Wochen in Hamburg 13 Flüchtlinge, sich umzubringen – zuvor waren es elf in sechs Monaten gewesen.
Auch bei den behandelnden Psychotherapeuten wächst die Sorge davor, dass die vereinzelte Behandlung die gesamte Volkswirtschaft treffen wird. „Ein psychisch Kranker, der innerhalb von zwei Jahren keine Therapie erhält, hat nur noch eine Minimalchance auf Arbeit, auf Spracherwerb, Integration“, sagt der Therapeut Mike Mösko. Wenn Hamburg nicht einschreite, verschwende man die Potenziale der Flüchtlinge.
Etwa ein Dutzend Fachleute wollen die Mängel in Eigeninitiative mit einem „Brückenkopf“ beheben. Sie sammeln Spenden in einem Fonds, für eine Anlaufstelle, welche die Psychotherapie der Geflüchteten in geordnete Bahnen lenkt. Solche Institutionen gibt es etwa bereits in Berlin. Der Senat prüft mit einer Arbeitsgruppe, ob sich ein solches Zentrum realisieren lässt. „Sie wird im Herbst über den Fortschritt berichten“, sagt Behördensprecher Rico Schmidt.
Für den Afghanen Mohammed wird das zu spät kommen, er hat sich zu seinen Eltern nach Frankfurt verlegen lassen. Gemeinsam können sie die Erinnerungen besser verdrängen, zumindest hofft er das. Die Tabletten nimmt er nicht mehr.
Wenn Flüchtlinge in großer Zahl in die Praxen kommen, könnte dies längere Wartezeiten für alle Versicherten bedeuten. „Wir haben relativ gesehen die zweitgrößte Anzahl an Psychotherapeuten bundesweit, aber Wartezeiten von sechs Monaten auf ein Erstgespräch“, sagt Stephan Hofmeister, Vorstand der Kassenärztlichen Vereinigung Hamburg (KVHH). „Jede persönliche Belastung bedarf nicht zwangsläufig einer langfristigen Therapie. Dies wäre personell und finanziell nicht zu leisten.“ Es brauche eine Prüfung im Einzelfall. Die Traumaambulanz am UKE versucht, ihre Plätze zu erweitern. 100.000 Euro hat die Sozialbehörde für Dolmetscher zugesagt.
Es sind nur knapp 40 Minuten im Erstgespräch, aber Amans Augen werden fester, klarer. Sarah Inal hofft, dass er einmal eines der lachenden Gesichter wird, die sie nach erfolgreicher Therapie auf Fotos im Foyer gehängt haben. Vielleicht war es der erste Schritt, Frieden zu finden, für sich und seinen Bruder.
*Name geändert