Hamburg. Prinz William schlug ihn zum Ritter, nun stirbt er im Alter von 74 Jahren nach einem Herzinfarkt. Ein Nachruf.
Ungezählte Mythen ranken sich um die Figur des Dirigenten: ein Charismatiker von unfehlbarer Autorität, dem Hauch des Göttlichen näher als den sterblichen Mitmenschen im Allgemeinen und den Orchestermusikern im Besonderen. Das ungefähr ist das traditionelle Bild, das Stars wie Herbert von Karajan, Lorin Maazel und Daniel Barenboim bis in unsere Zeit getragen haben. Von Ferne verehren darf man diese Halbgötter, fürchten soll man sie – aber wehe, man kommt ihnen mit menschlichen Niederungen.
Nun ist einer gegangen, ein Jahr älter nur als Barenboim, dessen Werdegang aus einem völlig anderen Stoff gemacht war. Sir Jeffrey Tate, Chefdirigent der Symphoniker Hamburg, ist am Freitag im italienischen Bergamo mit 74 Jahren an einem Herzinfarkt gestorben. Plötzlich, wie es in solchen Fällen heißt – aber war es auch unerwartet?
Den noblen Tate – nobel war sein Charakter, längst bevor ihn Prinz William erst im April zum Ritter schlug – umgab etwas, dem sich niemand entziehen konnte. Es war für jedermann offensichtlich, wie schwer deformiert sein Rücken war, wie mühsam das Gehen für ihn sein musste, welche Kraft es ihn kosten musste, sich beim Sitzen und erst recht beim Dirigieren aufrechtzuhalten. Man konnte nicht anders als mitzufühlen, auch wenn über seine Lippen öffentlich kein Wort der Klage kam. Dieser Mann war kein Halbgott, sondern Dingen unterworfen, die er sich nicht ausgesucht hatte.
Mozart war Tates besondere Stärke
Es mag die daraus resultierende Demut sein, die ihn einen so respektvollen, vollkommen unarroganten und grundsätzlich anderen Umgang mit seiner Umwelt pflegen ließ als die eingangs zitierten Pultlöwen. Tates Beziehung zu den Symphonikern war von einer Zuneigung und einem Grundvertrauen geprägt, die sich jedem mitteilten, der die Künstler bei der Arbeit
beobachten konnte.
Was sein Vorgänger Andrey Boreyko begonnen hatte, hat Tate, seit ihn Intendant Daniel Kühnel 2009 als Chefdirigenten nach Hamburg holte, fortgesetzt: Zum einen hat er das Orchester hörbar geprägt, was Stil und Spielweise betrifft. Leicht und tänzerisch und geschult an der historischen Aufführungspraxis klang das Ensemble unter seiner Stabführung.
Dass Mozart eine von Tates besonderen Stärken war, traf sich gut mit der Besetzungsgröße und dem Werdegang des Orchesters. Zum anderen waren seine Programmideen originell, doch nie als Selbstzweck um der Originalität willen. Wie Tate über die Werke sprach, verriet nicht nur eine immense Repertoirekenntnis, sondern darüber hinaus einen humanistischen, paneuropäischen Geist, selbstverständlich mit einem ausgeprägtem Faible für die Musik seines Heimatlandes. Besonders um die Musik Benjamin Brittens hat sich Tate verdient gemacht.
Man hätte ihm stundenlang zuhören können, wie er in fließendem, aber natürlich charmant britisch gefärbtem Deutsch und mit lakonischem Humor über seine Pläne oder über Begegnungen mit Künstlern in aller Welt plauderte. Ein Weltbürger war er, kunstsinnig weit über sein eigenes Fach hinaus und von vorurteilsloser Offenheit.
In der Hansestadt kamen Tate von Anfang an Ansehen, Respekt, ja Sympathie entgegen. Es waren die Früchte langer, harter Arbeit. Seit seiner Geburt im britischen Salisbury litt er an einer Wirbelsäulenverformung. Er wurde operiert, saß als Kind sogar im Rollstuhl. Und brachte es dennoch fertig, in Cambridge Medizin zu studieren und als Augenarzt zu arbeiten – bis ihm sein Chef am Londoner St. Thomas Hospital eines Tages riet, er solle sich der Musik zuwenden, die sei seine wahre Bestimmung.
Tate wusste als Kind, dass er schwul war
Was für ein mutiger, folgenschwerer Ratschlag. Tate, der Spätberufene, lernte sein Handwerk auch bei Herbert von Karajan; als Assistent von Pierre Boulez wirkte er 1976 am berühmten Bayreuther Jahrhundert-„Ring“ mit. Von London über New York bis Neapel hat er an den führenden Opernhäusern und mit bedeutenden Orchestern gearbeitet. Eine Karriere, die er seinen körperlichen Einschränkungen buchstäblich abgerungen hat.
Er habe früh gewusst, dass er anders sei als andere, hat er einmal gesagt. Schon als Kind wusste er, dass er schwul war – auch das im konservativen Nachkriegsengland dies nicht gerade einfach als Voraussetzung war.
Doch auch mit dem Thema Homosexualität ging Tate bemerkenswert unverkrampft um – ganz so, als sei ihm diese enorme geistige Freiheit in die Wiege gelegt worden. 2010 heiratete er den Wissenschaftler Klaus Kuhlemann, mit dem er bereits seit Jahrzehnten zusammenlebte. Ohne dessen Unterstützung wäre Tates Dirigentenleben zwischen den Metropolen womöglich nicht in dieser Form denkbar gewesen.
Tate hat immens viel erreicht. Doch die Demut ist ihm immer geblieben. Seit ihn eine Lungenentzündung 2011 beinahe das Leben gekostet hätte, lebte er zeitweise mit künstlicher Sauerstoffzufuhr. Zu seinem 70. Geburtstag 2013 wünschte ihm das Abendblatt „das Glück langen, stetigen Atems“. Seinen letzten Atemzug hat er zu früh getan. Doch seine künstlerische Inspiration werden die Symphoniker in Ehren halten.