Hamburg. Ein Gespräch mit Literaturhaus-Chef Rainer Moritz über das neue Album und darüber, was eigentlich einen guten Text ausmacht.
Helene Fischer ist längst die erfolgreichste deutsche Sängerin. Der Superstar am Schlagerhimmel, die Königin in den Seichtgebieten des textlich Banalen – und eine Entertainerin, die auf verblüffende Weise den Geschmack des Publikums trifft.
Am Sonnabend war Helene Fischer (32) Stargast der ESC-Party am Spielbudenplatz, wo sie ihr neues Album (es heißt wie sie) vorstellte. Im September spielt sie fünfmal in der längst ausverkauften Barclaycard Arena. Im Sommer des kommenden Jahres tritt sie im Volksparkstadion auf. Alle Termine werden – eine Aussage, für die es keine prophetischen Fähigkeiten braucht – Festtage der kleinen Alltagsflucht und Hohefeiern des Schlagers sein. Was macht dessen Reiz eigentlich aus? Und wie ist überhaupt das neue Album von Helene Fischer?
Diese Fragen kann vielleicht am besten Rainer Moritz beantworten. Der 59-Jährige ist nicht nur Chef des Hamburger Literaturhauses, sondern auch Buchautor („Und das Meer singt sein Lied: Eine Schlagerfahrt“) und Schlagerexperte.
Sie sind ein Mann der Literatur. Was macht einen guten Schlagertext aus?
Rainer Moritz: Wenn ich das wüsste! 80 Prozent der Schlager sind textlich sicherlich aus den üblichen Bestandteilen zusammengerührt: Herz, Schmerz, Sehnsucht. Helene Fischer zum Beispiel arbeitet beinah ausschließlich mit diesen Bausteinen. Das ist durchaus schade, denn Lieder wie etwa „Marmor, Stein und Eisen bricht“ oder „Ich will ‘nen Cowboy als Mann“ zeigen ja, dass es immer auch anders geht.
Wir hören gerade das neue Album von Helene Fischer ...
Rainer Moritz:... und was gleich auffällt: der bei ihr typische Stampfrhythmus. Hm. In Schlagern sind übrigens, darüber gibt es Untersuchungen, die Worte „Ich“ und „Du“ die beliebtesten Vokabeln.
Trivialität, Formelhaftigkeit und thematische Engführung sind beim Schlager ja durchaus gewünscht. Die neuen Fischer-Lieder heißen: „Nur mit dir“, „Sonne auf der Haut“, „Wenn du lachst“, „Flieger“, „Herzbeben“, „Wir zwei“, „Schon lang nicht mehr getanzt“, „Viva La Vida“, „Achterbahn“, „Du hast mich stark gemacht“, „Das volle Programm“, „Dein Blick“, „Lieb mich dann“, „Wir brechen das Schweigen“, „Sowieso“, „Genau mein Ding“, „Weil Liebe nie zerbricht“ und, das letzte, „Adieu“.
Rainer Moritz: Die Arrangements sind gefällig, die Texte überaus konventionell – das Unoriginelle ist zur Leitidee erhoben. Man findet wirklich alle Vokabeln, die in die Schlagerwelt seit den 70er-Jahren eingeführt sind. „Das volle Programm“, einer der Songtitel, ist da in der Tat, nun ja, programmatisch. Es ist auch bei weitem kein Hit wie „Atemlos“ dabei, kurz: Ich finde das Album schon etwas enttäuschend.
Ist es nicht ein zentrales Merkmal des Schlagers, das er eben nicht unverwechselbar ist?
Rainer Moritz: Natürlich ist es seit jeher so, dass Schlagertexte nicht viel riskieren oder gar provozieren. Es gab Ausnahmen wie Udo Jürgens, der auch mal politisch war. Schlager sprechen Primärgefühle an, es geht um eine heile Welt mit den Urgefühlen des Menschen wie Liebe etc. – und diese Schlager haben dafür nur drei Minuten Zeit. Wofür der Romancier 200 Seiten braucht, textet Christian Anders: „Ich habe gesagt/Geh, wenn du willst/Darauf bist du gegangen“.
Der Schlager erlöst den Menschen von den Beschwernissen des Alltags, kann man das so sagen?
Rainer Moritz: Er hat viel mit Sehnsuchtserfüllung zu tun. Man muss bei Konzerten etwa von Andrea Berg nur das Publikum beobachten. Da steht die Drogeriefachverkäuferin zwischen 50 und 60, die jeden Text auswendig kann – auch wegen der autobiografischen Bezüge.
Sie fühlt: Die Frau da vorne drückt etwas aus, was ich so nicht ausdrücken könnte. Ich nenne das die „Protesen-Funktion“ des Schlagers: Er sagt, was ich empfinde, aber selbst nicht formulieren kann. Und das Leben besteht eben für viele Menschen aus einfachen Weisheiten – das kann man so sagen, ohne überheblich klingen zu wollen.
Ist Helene Fischer, der größte Schlagerstar unserer Zeit, eine Heldin des kleinen, großen Glücks im Alltag?
Rainer Moritz: Sie ist vor allem ein Sonderphänomen. Ihr Erfolg wäre vor 20 Jahren undenkbar gewesen. Die Hochphase des Schlagers ist lange vorbei, die meisten Interpreten haben kein großes Publikum. Sie kann sich ausdrücken, erfüllt äußerlich das blonde Frauen-Ideal, hat Entertainerqualitäten: Man kann viele Gründe für ihren Erfolg finden. Aber insgesamt bleibt doch ein Rest Unerklärbarkeit.
Ist ein Ende ihrer Siegessträhne in Sicht?
Rainer Moritz: Es ist zumindest so, dass ihr von vielen Seiten behauptetes aseptisches, makelloses Image eine gewisse Gefahr birgt. Die größte Verfehlung, die sie einmal in einem Interview sozusagen zugab: Sie isst leidenschaftlich gerne Schokolade (lacht). Allerdings wird es ihr auch mit den neuen Stücken gelingen, bei einem jungen Publikum zu punkten. Es gibt seit einigen Jahren den Willen der Deutschen, sich selbst zu feiern. Um was es geht, ist vielleicht erst einmal egal, aber der Soundtrack dazu ist Helene Fischer.
Bei „Wenn du lachst“ heißt es: „Wenn du lachst/bringst du jede Angst zum Schweigen/Wenn du lachst, ist es wie ein Tag am Meer/Und mir wird klar, ich will immer bei dir bleiben/Wenn du lachst, wenn du lachst“. Und in „Viva La Vida“ singt sie: „Hey oh, ale ale oh,/Ein Gefühl, ein Moment, alles dreht, alles brennt/Hey oh, ale ale oh,/Das ist unsere Zeit, wir sind unsterblich heut’/Ein Viva la Vida, ein Hoch auf diesen Tag/weil ich das Leben so mag“. Ich vermute, ich kann das nicht oft hören. Aber live könnte es ein Bringer sein. Beim Stadionkonzert vor zwei Jahren habe ich mich keine Minute gelangweilt.
Rainer Moritz: Schlagerkenner sagen, dass der Text sowieso überbewertet wird, Melodien sind der Türöffner. Trotzdem reicht es nicht, wenn Helene Fischer auf ihrer neuen Platte ab und an mal eine Ballade einstreut, sie greift mit ihrer Dauerjugendfrische doch nur stereotyp alte Muster auf – „Herzbeben“ eben.
Wahrscheinlich ist sie zu erfolgreich, um mal mehr zu wagen. Über die Geschlechterrollen in ihren Liedern braucht man gar nicht zu reden, auch da geht es sehr konventionell zu. Bislang ist eine eingerissene Jeans der Gipfel dessen, was sie sich an Nichtperfektheit erlaubt (lacht).