Hamburg. Sehenswürdigkeiten wie Elbphilharmonie oder Rathaus faszinieren Jung und Alt oft gleichermaßen – aber aus völlig anderen Gründen.
Ja, 37 Meter sind ziemlich hoch. Das räumen Carlo und Paul, beide vier Jahre alt, beim Blick von der Plaza der Elbphilharmonie ein. „Aber die Schiffe kann man von hier oben ja kaum erkennen.“ Ein ernüchterndes Urteil. Folge: Bereits nach drei Minuten kehren die Jungs der Aussichtsplattform, für deren Besuch viele Menschen am Wochenende Schlange stehen, den Rücken. Das hatten sich die Eltern irgendwie anders vorgestellt.
Die Faszination für Hamburgs Attraktionen ist trotzdem generationsübergreifend und hat sicher nicht nur mit dem Zauber des Neuen zu tun. Auch das imposante Rathaus, der Hafen oder die vielen Museen und Theater vermögen nicht nur Groß, sondern vor allem auch Klein immer wieder ins Schwärmen zu bringen. Kinder sind bei Entdeckungstouren durch die Stadt mindestens genauso fasziniert von den Sehenswürdigkeiten wie die Altvorderen. Allerdings aus völlig anderen Gründen.
Was das Sehenswerte an einer Sehenswürdigkeit ist, darüber gibt es nicht selten geteilte Ansichten. Für Eltern ist es das Offensichtliche, für Kinder meist das Abwegige oder Banale. Die Kleinen haben eben ganz eigene Vorstellungen von spektakulär. Am Ende war man mal wieder aus komplett unterschiedlichen Motiven am Ausflugziel.
Elbphilharmonie, Hagenbeck, Rathaus, Mineralogisches Museum: Was der Nachwuchs dort als spannend empfindet, ist für Eltern immer wieder erstaunlich. Der unverbrauchte, manchmal naive Blick, die unbändige Neugier und die tägliche Lust auf Abenteuer verwandeln für Kinder jeden Ausflug in ihr ganz eigenes Erlebnis. Betrachten zwei Vierjährige Hamburg, werden viele Sehenswürdigkeiten jedenfalls prominent ignoriert.
Elbphilharmonie: Was wirklich zählt, sind 82 Meter
Was haben sich nationale und internationale Kommentatoren an dem Konzerthaus abgearbeitet: Juwel an der Elbe, Jahrhundertbau, Hamburgs neues Wahrzeichen. Nicht nur die Hansestadt, auch der Rest der Welt überschlägt sich vor Begeisterung. Vierjährige können den Namen zwar kaum aussprechen („Elbphilmonie“), aber toll finden sie das große Haus mit dem komischen Dach trotzdem. Dass im Großen Saal die Musik spielt, interessiert sie dabei nur am Rande. Von der Plaza aus auf die Elbe, den Hafen und den Rest der Stadt zu blicken, sorgt ebenfalls nicht nur und vor allem nicht lange für Begeisterungsstürme.
Wesentlich spannender ist die 82 Meter lange „Tube“: Für Paul und Carlo ist es „die längste“ und vor allem die „coolste Rolltreppe der Welt“. Dass Ersteres nicht stimmt, ist ihnen schnurz – genau wie der Fakt, dass es sich auf jeden Fall um die weltweit erste gebogene Rolltreppe handelt. Kurz diskutieren die beiden sehr ernsthaft darüber, ob die Rolltreppe am Hauptbahnhof, die von der U 2 nach oben führt, nicht genauso toll ist. Zum Urteil „Nein“ kommen sie, weil das Licht auf der Elbphilharmonie-Rolltreppe „viiiiel heller“ und das Rückwärtsfahren einfacher ist. Länger rollen kann man auch. Zweieinhalb Minuten dauert eine Fahrt. Doch was heißt hier eine? Hoch. Runter. Hoch. Runter. Hoch. Runter. Hoch. Und mit Überredungskunst ein letztes Mal runter. Und die Musik? Die würden sie am liebsten beim Rolltreppefahren hören. Logisch.
Warum die Kleinen die Welt mit anderen Augen sehen, weiß Prof. Dr. Ulf Liszkowski. Der promovierte Psychologe leitet das Forschungszentrum für kognitive und kulturelle Entwicklung sowie den Arbeitsbereich Entwicklungspsychologie an der Universität Hamburg. „Kinder haben aufgrund ihres Alters noch nicht das Hintergrundwissen und die Lebenserfahrung wie Erwachsene. Sie müssen ihre Sichtweise auf die Welt und die Dinge noch entwickeln“, sagt er. Dadurch gehen Kinder unvoreingenommen an die Dinge heran, so der Experte.
Erwachsene hingegen haben eine gefestigtere Sichtweise, oft geprägt durch die Gruppe, in der sie leben. Entsprechend ordnen sie ein und beurteilen. „Das können Kinder auch, aber auf andere Art und Weise. Sie sind weniger an kulturelle und normative Sichtweisen gebunden und freier in ihrer Beurteilung“, sagt Liszkowski. Sie lesen noch keine Reiseführer oder Kritiken, sie entscheiden selbst, was für sie wichtig und interessant ist.
Hagenbeck: Tot oder flauschig, Hauptsache, was zum Anfassen
Kinder, die auf Tiere starren, sind ein Selbstgänger. Hagenbecks Tierpark rangiert auf der Liste der gewünschten Ausflugsziele Woche für Woche auf den vorderen Plätzen. Knapp 2000 Tiere aller Kontinente leben in der Parkanlage, darunter viele Exoten. Schon die Größe einiger Vierbeiner ist beeindruckend. Eine Elefantenherde, die sogar aus der Hand frisst, Walrosse, Tiger und Giraffen.
Für Vierjährige ist der Tierpark ein Paradies. Dürfen sie ihr Lieblingstier ansteuern, rennen Carlo und Paul jedoch nicht zu den Seebären im Eismeer, zu den Löwen im Afrika-Panorama oder den Menschenaffen im Orang-Utan-Haus. Sie laufen zu den Ziegen. Stinknormale Ziegen. Zugegeben, Zwerg- und Damara-Ziegen, aber im Vergleich zu den Exoten eben doch nur: Ziegen. Andererseits: Die kann man anfassen, die kann man füttern. Die können einstecken. Eine halbe Ewigkeit beobachten die Jungs die Tiere. Streicheln sie, versorgen sie mit Nahrung, kommentieren die Verdauung: „Guck mal, wie viele Köttel die machen. Viel mehr als wir.“
Wie groß ist der Bär? Wo kommt der Pelikan her? Warum ist der Tiger bedroht? Alles egal, solange es Ziegen gibt.
Eine Attraktion, die ebenfalls bei keinem Besuch verpasst werden darf: Der Naturabguss von zwei Riesenschlangen aus dem Jahr 1909. Unter dem Bronzeguss steht die tragische Geschichte. Im Kampf um den Kadaver eines Schwans hatten sich die Tiere ineinander verbissen und nicht mehr losgelassen. Zusammen waren die Schlangen im Wasserbecken ertrunken. Die Story der tödlichen Beißgemeinschaft verliert auch nach dem 135. Mal nicht an Faszination. „Liegen die Schlangen jetzt im Tropenaquarium? Oder im Himmel? Warum war ein toter Schwan im Becken? Wie ist der gestorben?“ Logistischer Vorteil für Eltern: Schlangen-Abguss und Ziegenstall liegen nur 30 Meter voneinander entfernt. Nach den Tagesordnungspunkten 1 und 2 bleibt noch Zeit für die Langweiler-Tiere. Elefanten. Tiger. Bären.
Dabei löchern die Kleinen ihre Eltern gern mit der Frage: Welches ist dein Lieblingstier? Und vor allem: warum? Laut Experte ein normaler Impuls. Denn auch Kleinkinder wollen wissen, wie die Großen über die Welt denken, sagt
Liszkowski. „Bereits mit zwölf Monaten beginnen Kinder, auf etwas zu zeigen, das sie interessiert“, sagt er. Die Umwelt geht darauf ein und bietet ihre Ansichten auf das Objekt des Interesses. „Die Entwicklung einer gemeinsamen Sichtweise, das Teilen von Ansichten, ist ein lebenslanger Prozess und ein Wesenszug des Menschen – kein anderes Tier verfügt über diese Fähigkeit.“
Rathaus: 647 Räume und kein Schlafzimmer?
Ein Vierjähriger kann bis 100 zählen – mindestens. In seiner Wahrnehmung. In Wirklichkeit kommt er ab 20 ins Straucheln. Aber dass 647 eine sehr hohe Zahl ist, zumal wenn es um die Zimmerzahl in nur einem Gebäude geht, weiß auch ein kleiner Mensch. Und deshalb ist das 120 Jahre alte Hamburger Rathaus durchaus interessant für Kinder.
Ein prächtiger Bau mit Kaiserstatuen an der Fassade, Sälen mit Deckenmalereien und riesigen Gemälden. Dafür haben Carlo und Paul allerdings nichts übrig. Sie interessiert nur eines: „Wie sieht das Zimmer aus, in dem der Bürgermeister schläft? Hat er ein Himmelbett?“ Nein. Er hat vermutlich ein ganz normales Bett. Und er wohnt auch nicht im Rathaus, er arbeitet nur dort. Die Antwort ist natürlich ernüchternd. „So viele Zimmer und kein Schlafzimmer? Auch kein Wohnzimmer?“ Nein. Aber es gibt einen Bürgermeistersaal, in dem Bürgermeister und wichtige Menschen aus anderen Städten und Ländern etwas in ein Goldenes Buch schreiben dürfen. „Wir auch?“ Nein.
Kein Gekritzel im Goldenen Buch, kein Himmelbett von Olaf Scholz – dennoch wollen die Kinder bald wieder ins Rathaus. Wegen der nackten Frauen. Die nackten Frauen im Wasser des Hygieia-Brunnens im Innenhof des Rathauses. Aufgrund der Architektur ist das dreistöckige Kulturdenkmal ideal zum Wasserspritzen. Ebenso faszinierend sind Hygieia, die Göttin der Gesundheit, und die sechs Bronzefiguren, die am Brunnenrand sitzen. Dabei beschäftigt die Vierjährigen nicht, warum die Figuren ein Schiff oder einen Spiegel in den Händen halten, sondern vor allem die Frage: „Warum sind die fast alle nackt?“
Erwachsene sind an skulpturales Blankziehen gewöhnt, Kinder nicht. „Ansichten der Erwachsenen sind oft durch kulturelle Gruppenzugehörigkeit geprägt“, sagt Ulf Liszkowski. Mit Kinderaugen sehen wir die Welt eigentlich nur noch, wenn wir als Touristen in andere Länder reisen und dort Dinge erstmals erleben, etwa kulinarische Neuheiten, Höflichkeitsriten oder öffentliche Transportsysteme. Als Beispiel nennt der promovierte Psychologe einen Bleistift. Ein Erwachsener weiß: Das ist ein Stift, mit dem ich Schreiben und Zeichnen kann. „Für Kinder kann der Bleistift auch eine Rakete sein“, sagt er. So tun als ob – das falle Erwachsenen schwerer.
Mineralogisches Museum: Leck es oder lass es!
Der Name klingt trocken, in den Ohren für Vierjährige fremd und langweilig. Lässt man den Teil mit den Mineralien weg und erzählt stattdessen von Steinen, die Piraten in ihren Schatztruhen aufbewahren, sind Kinder sofort startklar. Diamanten, Amethyste und andere funkelnde Edelsteine, Gold und Silber kennen sie nur aus ihren Büchern. Im Mineralogischen Museum auf dem Campus der Uni Hamburg lässt das Interesse an wertvollen Klunkern und leuchtenden Kristallen jedoch schnell nach. Auch geheimnisvolle Meteoriten, die aus den Weiten unseres Sonnensystems auf die Erde eingeschlagen sind, begeistern nur kurzzeitig.
„Guck mal, der Meteorit wiegt 20-mal mehr als du und wurde in Afrika gefunden.“ Nach einem kurzen „Wow, echt cool“ düst Carlo weiter. Dahin, wo alle Kinder sind. Zum Lieblingsstein aller Jungen und Mädchen. Er scheint magnetische Kräfte zu haben. Dabei ist er weder wertvoll noch glänzt er in schillernden Farben. Im Gegenteil: Es ist ein schnöder Salzstein, an dem normalerweise Hasen, Pferde und andere Tiere schlecken. Im Mineralogischen Museum übernehmen das die kleinen Besucher. Während Eltern versuchen, ihren Ekel nicht all zu deutlich zu zeigen und hygienische Bedenken beiseitezuschieben, lecken die Kindern am Salzstein munter drauf los. Klar, Diamanten, die geschützt hinter Glas liegen und nicht „probiert“ werden dürfen, können da natürlich nicht mithalten.