Hamburg . Der Chef der Bundesagentur für Arbeit über die geringe Differenz von Hartz IV und Niedriglöhnen.
Die Zahl der Arbeitslosen ist im historischen Vergleich niedrig. Dennoch gibt es große Herausforderungen auf dem Arbeitsmarkt. Flüchtlinge müssen integriert werden, Niedriglöhne sind für viele kein Anreiz, einen Job anzunehmen. Hamburgs früherer Sozialsenator und heutiger Chef der Bundesagentur für Arbeit, Detlef Scheele(SPD), erzählt im Abendblatt, wie er diese Probleme angehen will.
Herr Scheele, Ihr Vorgänger Frank-Jürgen Weise wollte die Arbeitsagentur wie ein modernes Unternehmen führen und fand Halt in der Bibel. Mit welchen Grundsätzen treten Sie an?
Detlef Scheele: Ich werde dort ansetzen, wo Herr Weise wichtige Vorlagen geschaffen hat. Ich bin jemand, der stark auf Kooperation, auf dezentrale Entscheidungskompetenzen und eine bessere Zusammenarbeit mit den Kommunen setzt. Wenn man sich die Situation vor Ort anschaut, stehen wir vor einem Kurswechsel.
Was meinen Sie?
Scheele: Es gibt das einfache Vermitteln praktisch nicht mehr. Früher hat man die Ausbildung eines Arbeitslosen betrachtet, und dann elektronisch mit den Anforderungen der Arbeitgeber abgeglichen. Jetzt besteht die Aufgabe oft darin, die Menschen ausfindig zu machen, die noch keine passende Kompetenz haben, sich aber etwa zu Fachkräften entwickeln können. Das erfordert qualifizierte Beratung, ein enges Netzwerk zu Arbeitgebern und anderen Partnern, Geduld. Vor allem bei Menschen, die bereits sehr lange Zeit arbeitslos sind, wollen wir stärker als bisher die gesamte Familie in den Blick nehmen und unterstützen.
Knapp eine halbe Million Menschen lebt bereits seit seiner Einführung von Hartz IV.
Scheele: Das ist ein enormes Problem. Diese Arbeitslosigkeit hat sich vererbt. Deshalb muss der Fokus auf der Prävention liegen. Dazu gehört, etwa mit Eltern im Beratungsgespräch auch darüber zu sprechen, dass sie ihr Kind in eine Krippe oder Kita geben, damit es so früh wie möglich Zugang zu Bildungsangeboten erhält. Wir stimmen uns diesbezüglich bereits heute deutlich stärker mit den Schulträgern und dem Jugendamt ab. Das Ziel unserer Beratung kann somit auch sein, rechtskreisübergreifend die gesamte Familie zu fördern.
Können die Vermittler sanktionieren, wenn die Eltern das nicht mitmachen?
Scheele: Nein, aber wir könnten künftig solche elterlichen Pflichten als Auflage festschreiben, bevor wir bestimmte Maßnahmen bewilligen. Das wäre effektiv. Insgesamt führen aber nur drei Prozent der Aktionen zwischen Arbeitsvermittler und Kunden zu Sanktionen, Tendenz fallend. Dieser Aspekt wird oft überschätzt.
Welche Hebel sehen sie noch, um junge Menschen vor der Arbeitslosigkeit zu bewahren?
Scheele: Der Übergang von Schule und Beruf ist elementar wichtig: Wir möchten bereits ab Klasse 8 vor Ort in den Schulen beraten, das möchten auch die Arbeitgeber. Und wir wollen erstmals eine umfassende Datenbank mit Schulen und Jugendämtern aufbauen, um die Karrieren von jungen Menschen nachverfolgen zu können, bis sie 25 Jahre alt sind. In Hamburg gibt es ähnliche Formen des Datenabgleichs bereits. Bislang gehen uns bundesweit noch viele junge Menschen etwa nach einem abgebrochenen Studium „von der Angel“, fallen aus dem Beratungssystem. Und wir haben bislang noch nicht einmal einen genauen Überblick darüber, wie viele es sind. Das ist unbefriedigend.
Beunruhigen Sie die hohen Zahlen von Studienabbrechern?
Scheele: Unsere Erfahrung ist, dass manchmal ein Hochschulstudium begonnen wird, ohne andere Alternativen wie zum Beispiel ein duales Studium richtig zu durchdenken. Im Schnitt brechen mehr als 20 Prozent der Studierenden ihre akademische Laufbahn ab. Da läuft offenbar auch grundsätzlich etwas schief.
Auf der anderen Seite finden etwa Hamburger Handwerksbetriebe kaum Nachwuchs, weil es harte körperliche Arbeit und frühes Aufstehen braucht. Ist die Jugend zu weich für diese Berufe?
Scheele: Ich halte überhaupt nichts von solchen pauschalen Aussagen. Der Ausbildungsbereich ist ein Markt, in dem man als Bewerber im Moment eine Auswahl hat. Es gibt aber auch Jugendliche, die einfach keine Lust auf bestimmte Tätigkeiten haben. Wichtig für uns ist, schon an die Seite der Jugendlichen zu treten, bevor die Berufswahl abgeschlossen ist.
Insgesamt ist die Lage auf dem Arbeitsmarkt so rosig wie selten zuvor. Trotzdem zieht ihr Parteigenosse Martin Schulz derzeit durch das Land und sagt, es gehe nicht gerecht zu. Hat er recht?
Scheele: Es gibt, wenn man ehrlich ist, auf dem Arbeitsmarkt Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit nah nebeneinander. Ich kann etwa verstehen, dass Arbeitnehmer eine wiederholte Befristung ihrer Beschäftigung als ungerecht empfinden. Insgesamt muss man aber festhalten, dass wir eine sehr positive Entwicklung haben. Wir stehen bei 32 Millionen sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungen und sind zuversichtlich, bei der Arbeitslosenzahl unter 2,6 Millionen zu bleiben. Dass es insgesamt ungerecht zugeht, kann man nicht sagen.
Alle Menschen, die sich in Fortbildungen oder Umschulungen befinden, werden für diese Zeit nicht gezählt. Rechnet man sie in die Statistik ein, stünden wir in Hamburg nicht bei 70.000, sondern knapp 130.000 Arbeitslosen. Wird da die Statistik geschönt?
Scheele: Das sind gesetzliche Vorgaben. Sie hätten recht, wenn wir die Zahl der Arbeitssuchenden nicht kommunizieren würden. Aber sie wird in jeder Monatspressekonferenz sehr laut und deutlich mit vorgetragen. Würden wir die international üblichen Definitionen anwenden, stünden wir übrigens noch besser da.
Würden Sie als Sozialdemokrat sagen, dass die Hartz-IV-Gesetze korrigiert werden müssen?
Scheele: Zunächst einmal war es eine Überlebensgarantie für die Kommunen, dass durch die Reformen das finanzielle Risiko der Arbeitslosigkeit auf den Bund übertragen wurde. Das kann man nicht hoch genug einschätzen. Wir sehen aber in der Tat auch Anpassungsbedarf: Wir erleben, dass Leistungsempfänger Fortbildungen wegen eines kleinen Jobs abbrechen. Ein erhöhtes Arbeitslosengeld II während einer Umschulung zu zahlen, fänden wir deshalb richtig. Zweitens muss das Sozialgesetzbuch II zwingend vereinfacht werden. Das kostet uns bislang viele Kapazitäten, die wir besser in die Menschen investieren könnten.
Viele Menschen sagen, mit Hartz IV und allen Zuschüssen stelle man sich kaum schlechter als mit einem Vollzeitjob.
Scheele: Das ist ein Problem für die Arbeitsvermittlung. Das Bundesverfassungsgericht hat die Höhe der Regelsätze aber überprüft, es gibt dort keine Spielräume. Das Problem sind auch die höheren Mieten in Städten wie Hamburg, die per Saldo zu einer Zahlung an Arbeitslose führen, die dicht am Einkommen zum Beispiel einer Kassiererin sein kann. Das ist derzeit die Situation am Markt.
Wie soll andersherum eine Frau von dem Gehalt einer Krankenschwester in einer Stadt wie Hamburg leben?
Scheele: Sie haben völlig recht, die Lage ist dort angespannt, mitunter selbst im tariflichen Bereich. Wir haben dort in den vergangenen Jahren einen guten Lohnzuwachs gehabt. Nimmt man eine Erzieherin im zweiten und dritten Berufsjahr als Alleinverdienerin, ist es trotzdem gut möglich, dass wir den Betrag aufstocken müssen.
Damit zahlt der Staat die Löhne, die Arbeitgeber nicht leisten wollen.
Scheele: Es ist immer unbefriedigend, wenn Löhne aufgestockt werden müssen. Der Mindestlohn hat dem aber bereits entgegengewirkt, besonders stark etwa in Ostdeutschland. Diese Frage muss man aber an die Tarifpartner richten.
Also kann man die Zahl der Aufstocker kaum reduzieren?
Scheele: Doch, in dem man Menschen in Vollzeitjobs vermittelt und aufstockende Teilzeitbeschäftigte zur Arbeit in Vollzeit ermutigt.
Die Arbeitsagentur muss auch die große Aufgabe der Integration von Flüchtlingen bewältigen. Warum können die Flüchtlinge noch nicht die Personalnot in einigen Branchen lindern?
Scheele: Im Bund haben wir derzeit 131.000 arbeitende Flüchtlinge aus den acht häufigsten Herkunftsländern, 42.000 mehr als vor einem Jahr. Davon arbeiten 6500 in Hamburg, was ein ordentliches Zwischenergebnis ist. Die Unternehmen haben eine große Bereitschaft, Asylbewerber und Flüchtlinge einzustellen. Im Bereich der Ausbildungen stellt allerdings die Berufsschule ein Problem für manchen Geflüchteten dar. Mit verbesserten Sprachkenntnissen wird dies aber absehbar besser funktionieren.
Halten Sie an ihren Zielmarken fest?
Scheele: Ja, wir sind mit der Maßgabe im Plan, jährlich zehn Prozent der Flüchtlinge in Arbeit zu bringen. Man muss aber auch realistisch genug sein, um zu sagen, dass die Quote nicht weit darüber steigen wird.
Ist es realistisch, in Deutschland eines Tages weniger als zwei Millionen Arbeitslose zu haben?
Scheele: Das kann niemand sicher sagen. Fakt ist, dass wir bundesweit von Vollbeschäftigung trotz der guten Lage noch ein Stück entfernt sind und diese erst einmal unerreichbar bleibt. Es gibt allerdings einige Regionen in Deutschland mit sogenannter statistischer Vollbeschäftigung, das heißt dort liegt die Arbeitslosenquote um drei Prozent oder niedriger. Ich bin auch zuversichtlich, dass wir den guten Trend mit einigen Anpassungen aufrechterhalten können.