Hamburg. Katastrophale Zahnhygiene, Windeln, die zu selten gewechselt wurden: In dem Heim sollen die Bewohner schlecht behandelt worden sein.

Mehr als 50.000 Einzelschicksale hat Claus Fussek, seit Jahren Deutschlands prominentester Pflegekritiker, in seinem Archiv in München gesammelt; keiner weiß über die Missstände in deutschen Pflegeheimen mehr als er. Doch der Abendblatt-Bericht über das Pflegeheim Emilienhof in Wandsbek erschütterte auch ihn: „Sollten die Vorwürfe zutreffen, wären Staatsanwaltschaft und Polizei gefragt, denn in Rede stehen Straftaten wie Körperverletzung und Dokumentenfälschung.“

Alexandra Kottysch, Tochter des ehemaligen Weltklasseboxers Dieter Kottysch, hatte sich mit fünf ehemaligen und aktuellen Mitarbeitern des Emilienhofs ans Abendblatt gewandt, um aus ihrer Sicht gravierende Pflegefehler öffentlich zu machen. Konkret wirft die Gruppe dem Betreiber Fälschungen der Dokumentation, Lagerungsfehler mit schweren Druckgeschwüren als Folge, katastrophale Zahnhygiene der Bewohner und mangelnde Sauberkeit vor. Unter diesen Zuständen habe auch der an Demenz erkrankte Dieter Kottysch gelitten. Kottysch starb am Sonntag im Alter von 73 Jahren. Er hatte 1972 bei den Olympischen Spielen in München für Deutschland Gold gewonnen und ist bis heute Hamburgs einziger Olympiasieger im Boxen.

Betriebsräten Arbeit schwer gemacht

Eine Abendblatt-Leserin (Name der Redaktion bekannt) berichtete dem Abendblatt, dass ihre Mutter 2015 im Emilienhof eine „absolute Qual“ erlebt habe: „Wenn sie auf die Toilette musste, hat es so lange gedauert, bis jemand kam, sodass sie ins Bett machte. Daraufhin wurden ihr Windelhosen angezogen. Diese wurden zu selten gewechselt. Sie wurde dadurch wund im Intimbereich.“

Pflegeratgeber

Auch in den sozialen Netzwerken gab es entsprechende Vorwürfe. Die Gewerkschaft Ver.di beklagt, dass Arbeitnehmerrechte im Emilienhof ungenügend respektiert worden seien, von 2010 bis 2012 habe man die Wahl eines Betriebsrats über ein Arbeitsgericht durchsetzen müssen. Den Betriebsräten sei die Arbeit so schwer gemacht worden, dass das Gremium leider wieder aufgegeben habe, so Ver.di.

Tragischer Tod eines Olympiasiegers:

Dieter Kottysch – tragischer Tod eines Olympiasiegers

Dieter Kottysch begann als Weltergewichtler. Nach fünf deutschen Meistertiteln wechselte er 1968 ins Halbmittelgewicht
Dieter Kottysch begann als Weltergewichtler. Nach fünf deutschen Meistertiteln wechselte er 1968 ins Halbmittelgewicht © WITTERS | WilfriedWitters
Im gleichen Jahr qualifizierte sich der Hamburger auch erstmals für Olympia, kam in Mexiko-Stadt aber nicht über den 17. Rang inhaus
Im gleichen Jahr qualifizierte sich der Hamburger auch erstmals für Olympia, kam in Mexiko-Stadt aber nicht über den 17. Rang inhaus © imago/Horstmüller | imago sportfotodienst
Dieter Kottysch posiert 1971 mit (v.l.n.r.) Ewald Jarmer, Werner Ruzicka und Peter Hess und einem Sprachführer vor der EM in Madrid. Kottysch schied im Viertelfinale aus
Dieter Kottysch posiert 1971 mit (v.l.n.r.) Ewald Jarmer, Werner Ruzicka und Peter Hess und einem Sprachführer vor der EM in Madrid. Kottysch schied im Viertelfinale aus © imago/WEREK | imago sportfotodienst
Im Jahr darauf qualifizierte er zum zweiten Mal für Olympia
Im Jahr darauf qualifizierte er zum zweiten Mal für Olympia © WITTERS | WilfriedWitters
Dieter Kottysch 1972 bei einem EKG auf einem Fahrradergometer
Dieter Kottysch 1972 bei einem EKG auf einem Fahrradergometer © imago/WEREK | imago sportfotodienst
Olympia 1972 in München: Dieter Kottysch (r.) setzt sich im Halbfinale des Halbmittelgewichts gegen den Briten Alan Minter knapp nach Punkten durch
Olympia 1972 in München: Dieter Kottysch (r.) setzt sich im Halbfinale des Halbmittelgewichts gegen den Briten Alan Minter knapp nach Punkten durch © imago/Sven Simon | Sven Simon
Im Finale gegen Wieslaw Rudkowski (l.) krönt sich Kottysch dann zum Olympiasieger. Das Urteil fällt mit 3:2 Kampfrichterstimmen erneut äußerst knapp aus
Im Finale gegen Wieslaw Rudkowski (l.) krönt sich Kottysch dann zum Olympiasieger. Das Urteil fällt mit 3:2 Kampfrichterstimmen erneut äußerst knapp aus © picture-alliance / dpa | dpa
Dieter Kottysch (l.) nach dem Finale mit seinem Trainer Dieter Wemhöner
Dieter Kottysch (l.) nach dem Finale mit seinem Trainer Dieter Wemhöner © imago/Sven Simon | Sven Simon
Der Moment der Urteilsverkündung: Dieter Kottysch holt als erster westdeutscher Boxer nach dem Zweiten Weltkrieg Good im Halbmittelgewicht
Der Moment der Urteilsverkündung: Dieter Kottysch holt als erster westdeutscher Boxer nach dem Zweiten Weltkrieg Good im Halbmittelgewicht © picture-alliance / dpa | Sanden
Töchterchen Alexandra Kottysch, damals fünf Jahre alt, begleitet ihren Vater beim Jubellauf im Ring
Töchterchen Alexandra Kottysch, damals fünf Jahre alt, begleitet ihren Vater beim Jubellauf im Ring © picture-alliance / dpa | dpa Picture-Alliance /
NOK-Präsident Willi Daume überrreicht dem Hamburger die Medaille
NOK-Präsident Willi Daume überrreicht dem Hamburger die Medaille © picture-alliance / dpa | dpa
Der Olympiasieg bringt Dieter Kottysch mit der Prominenz zusammen. Das Bild zeigt ihn 1972 in München bei einem Bankett mit Hochsprunglegende Ulrike Meyfarth
Der Olympiasieg bringt Dieter Kottysch mit der Prominenz zusammen. Das Bild zeigt ihn 1972 in München bei einem Bankett mit Hochsprunglegende Ulrike Meyfarth © imago sportfotodienst | imago sportfotodienst
1982 gehörte Dieter Kottysch zu den Ehrengästen der Gala
1982 gehörte Dieter Kottysch zu den Ehrengästen der Gala "Zehn Jahre Olympiapark". Hier schultert er Grand-Prix-Siegerin Nicole (l.) und Opernsängerin Julia Migenes © imago/Sven Simon | imago sportfotodienst
Beim Boxen blieb Dieter Kottysch nach seiner Karriere ein gern gesehener Gast. 1997 besuchte er wie HSV-Legende Manfred Kaltz (l.) den WM-Kampf Ralf Rocchigiani – Carl Thompson
Beim Boxen blieb Dieter Kottysch nach seiner Karriere ein gern gesehener Gast. 1997 besuchte er wie HSV-Legende Manfred Kaltz (l.) den WM-Kampf Ralf Rocchigiani – Carl Thompson © WITTERS SPORT-PRESSE-FOTOS | Wilfried Witters
Dieter Kottysch 2003 mit seiner olympischen Goldmedaille von 1972. Bis zu seiner Pensionierung arbeitet er als technischer Zeichner, zuletzt bei den Stadtwerken Buchholz. 2006 später zeigt er erste Anzeichen von Demenz
Dieter Kottysch 2003 mit seiner olympischen Goldmedaille von 1972. Bis zu seiner Pensionierung arbeitet er als technischer Zeichner, zuletzt bei den Stadtwerken Buchholz. 2006 später zeigt er erste Anzeichen von Demenz © WITTERS | VivienVenzke
Dieter Kottysch 2012 zusammen mit seinem Enkel Davy im Trophäenzimmer seiner Wohnung in Buchholz
Dieter Kottysch 2012 zusammen mit seinem Enkel Davy im Trophäenzimmer seiner Wohnung in Buchholz © Roland Magunia | Roland Magunia
Das Pflegeheim Emilienhof am Ölmühlenweg in Hamburg-Wandsbek. Hier verbrachte Dieter Kottysch die vergangenen drei Jahre bis zu seinem Tod am vergangenen Sonntag
Das Pflegeheim Emilienhof am Ölmühlenweg in Hamburg-Wandsbek. Hier verbrachte Dieter Kottysch die vergangenen drei Jahre bis zu seinem Tod am vergangenen Sonntag © Klaus Bodig / HA | Klaus Bodig
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Inzwischen gehört der Emilienhof zum französischen Mutterkonzern Curanum, der den Emilienhof-Betreiber Casa Reha Anfang 2016 übernahm. Deshalb könne man zu älteren Vorgängen keine Stellung nehmen, erklärte eine Sprecherin des Konzerns auf Anfrage. „Aktuell“ gebe es keine entsprechende Initiative zur Neugründung eines Betriebsrats. „Wir erwarten, dass der neue Betreiber Arbeitnehmerrechte stärker würdigt“, sagt Ver.di-Pflegespezialist Norbert Proske.

Aufnahmestopp bereits im Mai 2016

Wie das Abendblatt berichtete, verhängte die zuständige Behörde im Bezirk Wandsbek – die Pflegeaufsicht ist in Hamburg Sache der Bezirke, nicht der Senatsbehörde für Gesundheit – bereits im Mai 2016 einen Aufnahmestopp, da „die Gesamtsituation im Emilienhof nicht in allen Bereichen den gesetzlichen Anforderungen entspricht“. Jetzt soll die Zahl der schwer pflegebedürftigen Bewohner stark reduziert werden.

Weitere Details der Anordnung wollte die Pflegeaufsicht am Montag aus „datenschutzrechtlichen Gründen“ nicht preisgeben. Allerdings gilt in der Branche ein Aufnahmestopp bereits als scharfe Sanktion, die auf gravierende Mängel bei der Kontrolle hindeuten könnten. Der Betreiber erklärt dazu, dass man „bereits im Frühjahr 2016 entschieden habe, weniger Plätze zu belegen“. Grund sei der „dramatische Fachkräftemangel“. Nur deshalb habe man so viele Zeitarbeitskräfte einstellen müssen.

Dieter Kottysch, Olympiasieger von
1972, mit Tochter Alexandra
Dieter Kottysch, Olympiasieger von 1972, mit Tochter Alexandra © HA | Roland Magunia

Pflegekritiker Claus Fussek kritisiert, dass in Deutschland wieder einmal das Frühwarnsystem nicht funktioniert habe: „Solche Mängel müssten schon viel früher Angehörigen, Ärzten und Pflegekräften bekannt gewesen sein. Leider gibt es in Deutschland eine Allianz des Wegschauens. Weite Teile der Gesellschaft haben sich an die schlimmen Zustände im Altenheim gewöhnt.“

Fussek fordert, dass sich Pflegekräfte solidarisieren müssen. „Dann wären sie stärker als jede Lokomotivführer- oder Pilotengewerkschaft.“ Völlig unverständlich sei ihm nach wie vor, warum Pflegekräfte die teilweise dramatischen Arbeitsbedingungen in schlechten Heimen überhaupt aushalten. „Jeder gute Pfleger findet sofort einen neuen Arbeitsplatz in einem besseren Heim.“

Die Lektüre des Abendblatt-Berichts über den Emilienhof blieb übrigens mehreren Bewohnern und Mitarbeitern verwehrt. Nach Informationen des Abendblatts wurde in deren Sonnabend-Ausgaben die Seite 14 mit unserem Bericht herausgetrennt.