Hamburg. Schwere Vorwürfe von Familie und Mitarbeitern: Dieter Kottysch soll schwer vernachlässigt worden sein. Dafür gibt es traurige Beweise.
Es sind Dokumente des Grauens, Bilder, die man nur schwer wieder aus dem Kopf bekommt. Sie zeigen Wunden, bei denen das tote Fleisch fast bis auf den Knochen reicht. Zahnlose Münder, in denen Essensreste vergammeln und an denen verkrusteter Dreck klebt. Bettwäsche und Kleidungsstücke mit Flecken von Urin, Kot und Erbrochenem. Sie zeigen, wenn man denen glaubt, die sie aufgenommen haben, den Alltag im Wohnbereich zwei des Seniorenpflegeheims „Emilienhof“ am Ölmühlenweg in Wandsbek.
Weil ihnen der Slogan „Ein Platz zum Wohlfühlen“, mit dem das Heim auf seiner Internetseite wirbt, wie ein Schlag ins Gesicht vorkommt und sie nicht länger bereit sind, diesen bitteren Alltag zu ertragen, haben sich fünf ehemalige und aktuelle Mitarbeiter des Heims an das Abendblatt gewandt. Aus Furcht vor arbeitsrechtlichen Konsequenzen sollen ihre Namen nicht genannt werden. Sie haben aber die gesammelten Dokumente vorgelegt, um ihre Anschuldigungen zu untermauern, und sie haben schriftlich erklärt, ihre Vorwürfe auch bei einer möglichen juristischen Auseinandersetzung aufrecht zu erhalten.
Hilferuf aus dem Pflegeheim
Die abstoßenden Fotos sollen hier nicht veröffentlicht werden. Wohl aber der Hilferuf derjenigen, die mit der alltäglichen Situation an ihrem Arbeitsplatz überfordert sind, aber laut eigener Aussage von ihren Vorgesetzten keinerlei Hilfe erfahren.
Angestoßen wurde die Aktion von Alexandra Kottysch. Ihr Vater Dieter Kottysch hatte 1972 bei den Sommerspielen in München die Goldmedaille im Halbmittelgewicht erkämpft und ist bis heute der einzige Hamburger Olympiasieger im Boxen. 2006 wurden bei ihm erste Anzeichen einer Demenzerkrankung festgestellt, seitdem verschlechterte sich sein Zustand stetig. Vor drei Jahren musste der heute 73-Jährige aus seiner Wohnung in Buchholz (Nordheide) ausziehen und kam in den „Emilienhof“, der für Tochter Alexandra (50) und Sohn Frank (46) für Besuche strategisch günstig liegt.
Dieter Kottyschs Tochter: Anzeige erstattet
Die Probleme begannen im Frühjahr 2016, als Dieter Kottysch wegen bei unsachgemäßer Lagerung oder nicht ausreichender Umlagerung entstandenen Dekubitus-Wunden sowie mangelhafter Zahnhygiene im Krankenhaus behandelt werden musste. Als er an einem Tag ohne Wissen der Kinder stationär aufgenommen wurde, beim Rücktransport ins Heim vor verschlossener Tür stand und von den ratlosen Sanitätern wieder zurück ins Krankenhaus gebracht werden musste, riss der impulsiven Tochter der Geduldsfaden. „Schon damals hätte ich Anzeige erstatten sollen. Das werde ich nun nachholen“, sagt sie.
Diejenigen Mitarbeiter, die sich rührend um den Vater kümmerten, beschwichtigten damals, ebenso der vom Amtsgericht eingesetzte Betreuer, der die Fürsorge übernommen hatte, da die Geschwister über den Umgang mit dem pflegebedürftigen Vater seit Jahren zerstritten sind. Die neue Heimleiterin, die im Juli 2016 übernahm, sollte für Besserung sorgen. In einem persönlichen Gespräch mit dem Abendblatt im Herbst 2016 konnte diese glaubhaft vermitteln, dass die Personalprobleme, die zu den beanstandeten Pflegefehlern bei Dieter Kottysch geführt hatten, Ausnahmefälle gewesen waren.
Tatsächlich jedoch hat sich, wie die Mitarbeiter fünf Monate später versichern, überhaupt nichts zum Positiven gewendet. Im Gegenteil: Anfang dieses Jahres fiel Dieter Kottysch aus seinem Bett, weil man ihn auf einer Wechseldruckmatratze gelagert hatte, auf der er in seinem Zustand nicht hätte liegen dürfen. Dabei zog er sich einen Nasenbeinbruch zu. Dass, wie die Mitarbeiter behaupten, zu jener Zeit nur eine externe Fachkraft und ein Auszubildender auf der Station im Dienst waren und die festen Fachkräfte in anderen Wohnbereichen trotz Rufbereitschaft nicht erreicht werden konnten, brachte die Angehörigen und den Betreuer in Rage.
Dekubitus: Kottysch lag sich wund
Zudem hatten sich neue Dekubitus-Wunden gebildet, die laut der Mitarbeiter nur entstehen konnten, weil Kottysch mehr als fünf Stunden lang nicht umgelagert wurde, obwohl eine Lagerung alle zwei Stunden zwingend vorgeschrieben ist. Auch dafür gebe es Belege anhand von Dienstprotokollen. Verantwortlich für diesen Notstand, der selbstverständlich auch andere der rund 90 Heimbewohner beträfe, sei die Personalnot, die laut der Mitarbeiter in Wahrheit keine Ausnahme darstelle, sondern die Regel. Der Betreiber Casa Reha spare aus Profitgier an Personal, heißt es.
Die Hauptvorwürfe, die die fünf Ankläger vorbringen, lauten auf gefährliche Pflege und Dokumentenfälschung. So werde durch den Personalnotstand die Gesundheit der Bewohner gefährdet. Dokumente, die die ordnungsgemäße Betreuung belegen sollen, würden entweder gefälscht oder sogar aus den Akten entfernt. Ein Mitarbeiter beteuert, seine Bereichsleiterin habe wörtlich zu ihm gesagt: „Alles, was wir hier aufschreiben, ist nicht die Wahrheit.“
Das größte Problem sei allerdings die Gleichgültigkeit, mit der die Heimleitung und der Betreiber auf Mahner reagierten. Viele Male habe man versucht, auf Missstände hinzuweisen, und erbeten, endlich Abhilfe zu schaffen. „Aber wir sind immer abgeschmettert worden. Das Unternehmen stellt nicht die Frage, wie man Probleme behebt, sondern wie man unbequeme Mitarbeiter los wird“, sagt einer, dessen Vertrag nicht verlängert wurde, weil er sich für eine Kollegin eingesetzt hatte.
Das Pflegeheim weist die Vorwürfe zurück
Harte Vorwürfe sind das, die eine Sprecherin des französischen Mutterkonzerns Curanum, der die Casa-Reha-Kette mit Sitz in Oberursel, zu der der „Emilienhof“ gehört, Anfang 2016 übernommen hatte, weitgehend zurückweist. Man bedaure den unglücklichen Bettsturz des Herrn Kottysch, „der nicht hätte passieren dürfen“. Es sei aber nicht zutreffend, dass in einigen Wohnbereichen dauerhaft nur externe Fachkräfte und Auszubildende eingesetzt würden, „sondern die Ausnahme. Das kam einmal in zwei der vier Wohnbereiche während der Grippewelle im Februar vor.“ Auch die Vorwürfe, Kottysch sei nicht vorschriftsmäßig gelagert worden, seien unwahr, Dokumente würden das belegen.
Dass Unterlagen von Tagen, an denen Pflegefehler im Fall Kottysch vorgefallen waren, verschwunden sind, sei korrekt. „Allerdings sind wir noch dabei, das zu untersuchen, und gehen von Diebstahl aus“, so die Sprecherin. Tatsächlich habe man wegen des leer gefegten Marktes in Hamburg mit „teils gravierendem Fachkräftemangel zu kämpfen“ und müsse deshalb verstärkt auf Externe zurückgreifen. „Uns dabei jedoch Methode aus Profitgier vorzuhalten, ist schon allein deshalb nicht zutreffend, weil externe Fachkräfte teurer sind als feste Mitarbeiter.“
Auch sei nicht zutreffend, dass Mitarbeiter, die Missstände anprangern, entlassen würden. „Wenn wir jemanden entlassen, dann nur, weil gravierende Gründe vorliegen, zum Beispiel der Verdacht auf eine Straftat.“ Dies sei in einigen wenigen Fällen vorgekommen. Im Gespräch mit der Heimaufsicht sei entschieden worden, im „Emilienhof“ zukünftig auf die Einbindung von Externpersonal weitgehend zu verzichten. „Wir folgen den von der Pflegeaufsicht geforderten Maßnahmen im Einvernehmen“, sagte die Sprecherin, „aber man muss auch verstehen, dass grundsätzliche Veränderungen nicht innerhalb weniger Monate umzusetzen sind und wir uns noch mitten in der Integrationsphase befinden.“
Pflegeaufsicht ist eingeschaltet
Tatsächlich ist die Pflegeaufsichtsbehörde am Bezirksamt Wandsbek längst tätig geworden. Auf Abendblatt-Anfrage bestätigte eine Sprecherin, dass die Defizite bekannt seien und man bereits reagiert habe. „Die Gesamtsituation im Emilienhof entspricht nicht in allen Bereichen den gesetzlichen Anforderungen. Ein dem allgemein anerkannten Stand der fachlichen Erkenntnisse entsprechender Betrieb der Einrichtung wurde nicht für alle Bewohnerinnen und Bewohner gewährleistet.“ Als Folge wurde gegenüber dem Betreiber eine Anordnung erlassen, die nur zum Tragen kommt, wenn der Mangel so erheblich ist, dass dieser nur durch eine Anordnung behoben werden kann.
Experten werten dieses Vorgehen als eine letzte Warnung für das Heim. Ein Aufnahmestopp gilt seit längerem, nun soll die Zahl der schwer pflegebedürftigen Bewohner drastisch reduziert werden. Eine Kündigung für Dieter Kottysch ist allerdings nicht vorgesehen, da sich dessen Gesundheitszustand unabhängig von der Pflegesituation wegen einer Lungenentzündung verschlechtert hat. Seit einigen Wochen liegt der Olympiasieger, der Pflegegrad vier hat (nach neuer Einordnung die zweithöchste Pflegestufe), in einem anderen Wohnbereich, wo mehr Fachkräfte eingesetzt werden. „Dort kümmert man sich rührend um ihn, auch die Heimleitung ist nun sehr bemüht“, sagt Alexandra Kottysch.
"Er hätte gewollt, dass wir für Gerechtigkeit kämpfen"
Dennoch sei es ihr und den Mitarbeitern wichtig, die Missstände in Teilen des Heims öffentlich zu machen. „Es geht nicht nur um meinen Vater, sondern um alle Bewohner, die unter der Situation leiden“, sagt sie. „Wir alle werden irgendwann alt sein und müssen hoffen, dass wir dann Angehörige und Pfleger haben, die verhindern, dass solche Dinge passieren, die hier passiert sind.“
Oft habe sie mit sich gerungen, den Vater zu sich zu holen oder in ein anderes Heim zu verlegen. Experten raten jedoch, Demente so lange wie möglich in einer vertrauten Umgebung zu belassen. Eins habe sie aber von ihrem Vater geerbt: den Kampfgeist. „Papi hätte gewollt, dass wir für die Gerechtigkeit kämpfen“, sagt sie. Deshalb wollen sie und ihre Mitstreiter alles tun, damit das Grauen, das einige Bewohner erlebt haben müssen, für die Zukunft verhindert werden kann.