Hamburg. Die Kneipe an der Kirchenallee ist eine echte Hamburgensie und garantiert lifestylefreie Zone. Das mögen auch junge Gäste.

Gemütlich ein Feierabend-Bier trinken, nach dem Kino oder der Theatervorstellung noch eine Gulaschsuppe essen, für die Party zu Hause Ersatz für den ausgetrunkenen Schnaps besorgen – Service und Angebot von Nagel sind da legendär. Das Restaurant und die Bar gegenüber vom Hauptbahnhof empfängt Gäste von früh bis spät in die Nacht und gilt nicht grundlos als Hamburgensie. Schließlich wird seit 90 Jahren im Lokal an der Kirchenallee gezapft, gekocht, gegessen und getrunken.

Erste Gründung 1848

Begonnen hat alles schon rund 80 Jahre früher. 1848 gründete Albertus Friedrich Nagel in der Niedernstraße am Michel die erste Niederlassung der Weinhandlung A.F.Nagel. Die Firma entwickelte sich zu einer der größten Hamburger Handelsketten Anfang des 20. Jahrhunderts. Um 1935 gab es neben einer Spirituosen- und Likörfabrik sieben Filialen, zwei Niederlassungen, eine Lagerstätte und eine Zweigkellerei in der Hansestadt. Ursprünglich diente das Lokal in der Kirchenallee 57 als Verkauf- und Probierstätte.

„Wir sind eine ehrliche und redliche Kneipe mit gutem Essen in gemütlicher Atmosphäre. Bei uns ist nichts gestylt“, sagt Robert Wörlein. Sein Vater Peter hat das Nagel vor 20 Jahren übernommen, jetzt die Geschäfte aber seinem 42-jährigen Sohn und seiner Tochter Bettina Bajorat überlassen. Es gibt Bier vom Fass, aber keine Cocktails, Bauernfrühstück statt Rindertatar, Filterkaffee in Kännchen und keinen Latte Macchiato mit Sojamilch. „Prosecco ist unser einziges Lifestyle-Getränk“, so Wörlein.

Kein WLAN – aber die Jungen finden es cool

Die Gäste sind bunt gemischt: Fußballfans, Hamburger Kultur-Genießer, Stadtbummler, Touristen, besonders oft aus England und Dänemark. „Wenn die jungen Leute aus dem Hostel nebenan hier einkehren, sind sie erstaunt, dass wir kein WLAN haben“, sagt Wörlein. „Aber sie bleiben, weil sie es cool finden.“ 13 Angestellte kümmern sich um Küche, Tresen und Service.

Rustikal ist die Einrichtung des Lokals. Rotbraune Wände, Tische, Stühle und Bänke aus Holz, ein hoher Raum mit breiter Fensterfront zur Kirchenallee, Balkendecke und Gewölbenischen – es sieht aus wie in der guten alten Zeit und nicht wie in den vielen aseptisch-weißen Lounge-Läden. Vor ein paar Jahren musste laut Wörlein der Brandschutz verbessert und vieles umgebaut werden. „Die Gäste haben nichts bemerkt, wir haben die alte Patina wieder hergestellt.“ Im Sommer kann man wunderbar draußen sitzen und das geschäftige Treiben beobachten.

Eigene Spirituosen-Marken

Gleich hinter dem Eingang steht rechts der Tresen mit großen Regalen, die bis zur Decke reichen, gefüllt mit Spirituosen. Die werden auch außer Haus verkauft, aber dieses Geschäft wird angesichts der Konkurrenz von Kiosken und Tankstellen immer unbedeutender. „Früher hatten wir 140 verschiedene Spirituosen“, erinnert Wörlein. „Die Skandinavier haben die Ware kistenweise weggeschleppt.“ Geblieben ist Alkohol der gängigen Marken sowie Nagel-Korn, -Rum und -Weinbrand, die extra für das Lokal hergestellt werden.

Geradeaus fällt der Blick in die offene Küche, wo Kartoffeln und Schnitzel gebraten, Fischsuppe gekocht und Käsebrote geschmiert werden. Links dann der Gästeraum, wo die Kronleuchter aus der Gründerzeit strahlen.

Ein Aufenthalt im Nagel wird zu einer Reise in die Hamburger Geschichte. An den Wänden hängen alte Schwarz-Weiß-Fotos, Brauereischilder, Gemälde mit maritimen Motiven, Kupferstiche und Zinnteller. Ein Gemälde, angefertigt von einem langjährigen Stammgast, zeigt die Service-Mitarbeiter. Auf einem Foto lächelt Hans Albers. „Der wohnte ja Lange Reihe, war Stammgast und hatte hier einen Schuldschein“, sagt Wörlein.

Das Kotzbecken ist heute Dekoration

Der Chef ist auch schon seit zwei Jahrzehnten im Geschäft. „Eigentlich habe ich Erzieher gelernt und hier nur gejobbt. Aber dann bin ich dabeigeblieben.“ Seine Schwester Bettina ist seit zwölf Jahren dabei. Vorher hat die heute 49-Jährige im Marketing gearbeitet.

Im Keller steht im Herrenklo eine Besonderheit: das Kotzbecken. Ein kleines Schild weist auf den besonderen Zweck dieser Porzellanschüssel hin. „Heute wird sie nur selten benutzt“, weiß der Wirt. „Komatrinker haben wir kaum noch.“ Früher war das Becken – Spitzname Papst – auch größer und hatte an den Seiten feste Handgriffe.

Das Nagel ohne Harald? Undenkbar. Er gehört zum Inventar, seit 30 Jahren schon kellnert er an der Kirchenallee. „Hier habe ich meinen Platz im Leben gefunden“, sagt der 65-Jährige. Gelernt hat der Hamburger im Hilton in Berlin, geblieben ist bis heute das akkurate Aussehen mit weißem Hemd sowie schwarzer Hose und Weste.

Anekdoten aus dem Leben

Der Mann mit dem Zopf und dem Franz-Josef-Bart macht meistens Spätschicht ab 16 Uhr. Trotz Rentenalter arbeitet er noch voll. „Für die Couch bin ich zu fit, und meine Frau lebt gut damit.“ Und ohne Harald wären all die Schnurren rund ums Nagel vergessen, zum Beispiel die Geschichte von dem Gast, der bierselig im Keller den Eingang zur U-Bahn suchte. Oder die vom trinkfesten, aber ortsunkundigen Mann, der angestrengt aus dem Fenster schaute und Hinweise suchte, in welcher Stadt er sich wohl befinden könnte.

Früher kamen hauptsächlich Männer ins Nagel, vom Arbeiter bis zum Professor war alles dabei. „Heute kehren auch öfter Familien ein“, hat Harald beobachtet. Für die Kinder hat er extra eine Malvorlage entworfen. „Viele Gäste und ich sind mit dem Nagel alt geworden. Wäre doch schön, wenn das die nächsten 90 Jahre so weitergeht.“