Hamburg. 60 Prozent mehr Angebote in der Ausbildungsplatz-Börse als 2016. Worauf die Chefs neben Pünktlichkeit noch Wert legen.
Ein bis zwei Ausbildungsplätze zum Elektroniker hat Dieter Hübner in diesem Jahr noch zu vergeben. Er ist Ausbilder bei der Nutz Nord GmbH in Hamburg, einem Betrieb, der sich auf Sicherheits- und Datentechnik spezialisiert hat. Etwa zehn Bewerbungen hat Hübner auch schon erhalten – doch sie waren für ihn eher ernüchternd. Und: Ein Bewerber, der zum Vorstellungsgespräch geladen war, kam erst gar nicht – ohne vorher abzusagen.
Das Unternehmen mit bundesweit insgesamt 250 Beschäftigten will erstmals in die Ausbildung einsteigen, nachdem es eine Firma mit dem entsprechenden Know-how übernommen hat. Hübner hofft jetzt, in den nächsten Monaten noch geeignete Bewerber zu finden. „Wir haben viel dafür getan und auch in einigen Schulen unsere Ausbildungsmöglichkeiten vorgestellt“, sagt er.
Lehstellenbörse prall gefüllt
Eigentlich wäre jetzt die Zeit, wo die Betriebe mit Bewerbungen überhäuft werden müssten, denn Ende Januar gab es die Zwischenzeugnisse, die die Basis für die Lehrstellensuche sind. Doch davon spüren die Ausbildungsbetriebe noch nichts. Im Gegenteil: Die Lehrstellenbörse der Handwerkskammer ist mit Ausbildungsplatz-Angeboten der Betriebe prall gefüllt. 836 freie Plätze sind derzeit in ihr ausgeschrieben. Gegenüber dem Vorjahr ist das ein Zuwachs von 62 Prozent.
„Das ist eine Entwicklung, die wir bisher nicht gehabt haben“, sagt Oliver Thieß, Leiter Bildungspolitik bei der Handwerkskammer. Stellen jetzt mehr Unternehmen, die Azubis bislang auf eigene Faust gesucht haben, ihre Lehrstellen in die Börse der Kammer ein, um ihre Chancen zu erhöhen, einen geeigneten Bewerber zu finden? Oder wächst die Zahl, weil nur wenige Lehrverträge geschlossen werden?
Die genaue Antwort kennt auch der Kammerexperte nicht: „Wir gehen davon aus, dass immer mehr Betriebe ihre Ausbildungsplätze einstellen“, sagt Oliver Thieß. Nun sind alle Hoffnungen darauf gerichtet, dass die freien Ausbildungsplätze schnell vergeben werden.
Für Abiturienten ist Handwerk nicht erste Wahl
Doch lassen sich Schulabgänger immer mehr Zeit, bis sie überhaupt Entscheidungen zu ihrer weiteren Zukunft treffen. 58 Prozent der Schulabgänger in Hamburg sind Abiturienten. Sie haben alle Möglichkeiten – und das Handwerk rangiert dabei nicht an erster Stelle. „Schulabgänger können unter 300 Ausbildungsberufen wählen, darunter 100 im Handwerk, Abiturienten unter 10.000 Bachelor-Studiengängen“, sagt Thieß. „Viele dürfte das überfordern.“
Rund 2500 Ausbildungsverträge werden jährlich im Hamburger Handwerk abgeschlossen. Wie viele jetzt schon in die Ausbildungsrolle eingetragen sind, will die Kammer nicht sagen. Nach Informationen des Abendblatts ist der Trend aber sehr positiv. Einen weiteren Schub neuer Lehrverträge erwartet die Handwerkskammer für Mai und Juni. Im August beginnt das neue Ausbildungsjahr.
Kein verkrampftes Vorstellungsgespräch mehr
„Unsere Bemühungen für die Nachwuchsgewinnung zahlen sich allmählich aus“, ist Thieß überzeugt. Dazu rechnet er die bundesweite Imagekampagne des Handwerks, die individuelle Beratung an Schulen, die Präsenz auf Ausbildungsbörsen und neue Formen wie das Azubi-Speeddating in der Kammer. Die Jugendlichen können sich dabei in sieben Minuten bei den Unternehmen vorstellen und so in kurzer Zeit viele Ausbildungsmöglichkeiten kennenlernen. Kein verkrampftes Vorstellungsgespräch mehr. „Das kommt den Jugendlichen entgegen“, sagt Thieß.
Auch Anne Effenberger, Betriebsleiterin der Vollkornbäckerei Effenberger, hat noch zwei Ausbildungsplätze für Bäcker zu vergeben. „Bisher haben wir ausreichend Bewerber gefunden, weil wir sehr viel mit Schulen zusammenarbeiten und Praktikumsplätze anbieten“, sagt Effenberger. „Bäcker müssen rechnen können, um etwa 1,8 Prozent Salz auf eine bestimmte Teigmenge ermitteln zu können, und pünktlich sein“, lauten ihre wichtigsten Forderungen.
Persönlichkeit zählt, nicht nur das Zeugnis
Die Kammer setzt darauf, dass sich ihre Imagekampagne auszahlt – und die Betriebe Kompromisse bei den Bewerbern machen. „Das Handwerk ist so vielfältig, dass junge Menschen mit sehr unterschiedlichen Talenten und Interessen hier ihre Berufung finden“, sagt Josef Katzer, Präsident der Handwerkskammer Hamburg. Die Ausbildungsbetriebe seien unabhängig von der Art des Schulabschlusses offen für leistungsbereiten Nachwuchs. „Bei uns zählt die ganze Persönlichkeit, nicht nur das Schulzeugnis.“
Doch Ausbilder Hübner erwartet mindestens eine Drei in den Fächern Mathematik und Physik bei einem Hauptschulabschluss. „Ein Realschulabschluss wäre wünschenswert, ist aber nicht Bedingung“, sagt er. Auch Jens Rösel, Chef des Handwerksbetriebs Allers & Rösel Haustechnik, weiß, dass schwache schulische Leistungen zu großen Problemen in der Berufsschule führen. „Wir stellen pro Jahr ein bis zwei Lehrlinge ein“, sagt er.
Für dieses Jahr ist noch ein Ausbildungsplatz als Anlagenmechaniker in der Fachrichtung Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik frei. Die Zahl der Bewerbungen habe stark nachgelassen. Einen Schwachpunkt sieht er in der niedrigen Ausbildungsvergütung. „500 Euro im ersten Lehrjahr sind für Hamburg nicht viel Geld, zumal wir auch schon Azubis hatten, die etwas älter waren und nicht mehr bei den Eltern wohnen“, sagt Rösel.
Betriebe sollten kompromissbereit sein
Handwerksbetriebe legten sehr viel Wert auf Tugenden wie Pünktlichkeit, Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit und gepflegtes Auftreten bei den Kunden. In diesen Punkten gebe es häufig Defizite. „Doch es ist auch Aufgabe der Ausbilder, hier den Jugendlichen auf die Sprünge zu helfen“, sagt Thieß. „Wenn man die praktische Bedeutung dieser Tugenden für die tägliche Arbeit erklärt, bekommen die meisten das auch schnell auf die Reihe.“
Um mehr Abiturienten zu gewinnen, weist die Kammer auch regelmäßig auf Karrierechancen hin: Unter den freien Ausbildungsplätzen sind auch einige für ein duales Studium. Dabei wird etwa die Lehre zum Anlagenmechaniker, Elektroniker oder Kaufmann mit einem betriebswirtschaftlichen Studium kombiniert. Am Ende der vierjährigen Ausbildung steht der Gesellenbrief – und ein Bachelorabschluss.