Hamburg. Die Stadtreinigung muss nicht einmal Stellenanzeigen schalten. Warum ist der Beruf so gefragt? Unser Autor fuhr eine Schicht mit.

Es ist 6.07 Uhr, die Schicht in Billstedt hat gerade begonnen, da springt Jan Zimmermann (35) fluchend zur Seite. Eine fette Ratte krabbelt an seinem Bein vorbei, versucht vergebens, über einen Zaun zu fliehen. Hinter ihr huschen drei Mäuse ins Gebüsch. „Echt widerlich“, schüttelt sich Zimmermann, als er den Müllcontainer an die Kante des Müllautos schiebt.

Zehn Minuten Gastfahrt mit der Kolonne 17 der Stadtreinigung reichen, um die Vorurteile über den Job des Müllmannes bestätigt zu haben. Dreckig, eklig, ein Job, den man nicht machen will. Im Kopfkino werden Bilder aus den 1960er-Jahren lebendig, als ausgezehrte Gastarbeiter der ersten Generation Blechtonnen über Bürgersteige wuchteten. Die Deutschen, hieß es immer, sind sich doch längst zu schade, ihren eigenen Dreck wegzumachen. Müllmann? Das machen doch nur Leute, die sonst nirgendwo jemand nimmt.

Begriff Müllmann eigentlich falsch

Jörg Bernhard lacht, als er beim Abendblatt-Gespräch die Klischees vernimmt. Der Personalchef der Stadtreinigung hat Brötchen auffahren lassen in seinem Büro im zweiten Stock des nüchternen Zweckbaus am Bullerdeich. Dieser Termin ist ihm wichtig, auch, um klarzumachen, wohin diese Vorurteile über den Müllmann seiner Ansicht nach gehören: in die Tonne! Allein der Begriff Müllmann sei eigentlich falsch, Entsorger müsste es korrekt heißen. Denn 2015 stellte Bernhard die erste Frau bei der Müllabfuhr ein, inzwischen sind es acht: „Die Müllabfuhr gehörte wie der Bergbau zur letzten Männerbastion. Das habe ich nicht eingesehen.“

Überfüllte Container – das tägliche Los
bei der Müllabfuhr
Überfüllte Container – das tägliche Los bei der Müllabfuhr © Michael Rauhe | Michael Rauhe

Dabei kann von Personalnot keine Rede sein. Während Altenheime Prämien an Pflegekräfte zahlen, wenn sie jemanden von der Konkurrenz abwerben, Handwerksbetriebe 4000 Euro an Personalagenturen überweisen, um sich Klempner oder Elektriker aus Spanien vermitteln zu lassen, hat Bernhard seit Jahren nicht einmal mehr geworben: „Wir haben genügend Initiativbewerbungen, wir nehmen einfach die nächste vom großen Stapel.“ In München, wo noch Anzeigen geschaltet werden, kämpfen 100 Bewerber um eine Stelle. In Sachen Image kann Bernhard auf eine Umfrage im Auftrag des Deutschen Beamtenbundes verweisen. Müllmann liegt in Deutschland an Position sieben direkt hinter Polizisten und Richtern, vor Piloten, Lehrern und Technikern.

Geregelte Arbeitszeiten

Traumberuf Müllmann? „Die Attraktivität des Berufs liegt sicher an der Sicherheit des öffentlichen Dienstes und den geregelten Arbeitszeiten.“ Bernhard entsorgt gleich das nächste Klischee, das Bild vom Verlierer des Bildungssystems. Man nehme zwar auch Bewerber ohne abgeschlossene Ausbildung. Doch das Gros habe einfach nur umgesattelt: „Bäcker, Elektriker, Klempner, alles dabei.“

Die Crew der Kolonne 17 taugt da als veritables Beispiel. Vorarbeiter Peter Gosch (52), der Chef an Bord, hat Schaufensterdekorateur gelernt, Fahrer Alexandro Drivakos (62) war in seiner griechischen Heimat als Elektriker Chef einer kleinen Technikabteilung, Belader Jan Zimmermann ist ausgebildeter Glaser. Und warum jetzt Müllabfuhr? Drivakos lacht: „Eigentlich der Liebe wegen.“

Ein Bier kostet den Job

Bei einem Deutschland-Urlaub 1988 lernte er eine Hamburgerin kennen – und blieb an der Elbe, zunächst als Kellner. Fünf Jahre später heuerte er bei der Stadtreinigung an, sicherer und besser bezahlt. Gosch erkannte schon in der Ausbildung, dass er lieber im Freien arbeiten möchte als Kaufhäuser auszustaffieren: „Mein Vater war schon bei der Stadtreinigung und sagte: Komm doch zu uns.“ Zimmermann verlor in der Wirtschaftskrise 2009 seinen Job als Hafenarbeiter. Jetzt könnte er zwar zurück, aber er will nicht: „Wenn die nächste Krise kommt, werde ich vielleicht wieder arbeitslos. Dieser Job ist sicher, denn Müll wird es immer geben.“

Schwere Tonnen,
aber viel mehr
Personal: So lief die
Müllabfuhr in den
1960er-Jahren
Schwere Tonnen, aber viel mehr Personal: So lief die Müllabfuhr in den 1960er-Jahren © Stadtreinigung Hamburg

Die Fahrt hat unterdessen Horn erreicht. Gosch und Zimmermann fischen ihre Vierkantschlüssel aus ihren orangenen Overalls, schließen die Blechkästen auf und wuchten die vierrädrigen 1100-Liter-Container Richtung Straße. Fahrer Drivakos bugsiert das 230.000 Euro teure Auto durch eine Einbahnstraße, Zentimeterarbeit. Er steigt aus, schiebt die Behälter an die Kante des Hecks. Der Aufzug greift die Container, hievt sie hoch, schlägt sie an die Schüttung, setzt sie leer wieder ab – alles per Knopfdruck.

Und während Drivakos die leeren Container zurückschiebt, holen Gosch und Zimmermann ein paar Meter weiter die nächsten Behälter. Jeder Handgriff sitzt, die drei sind eingespielt. „Eine gute Müllwagen-Crew hat etwas von einem Ballett“, sagt Personalchef Bernhard.

In der Führerkabine ist alles picobello

Müll und Ballett? Der Vergleich klingt gewagt, in Sachen Künste scheint Oscar aus der „Sesamstraße“, der sich so gern im Unrat suhlte, doch das passendere Pendant. Aber wieder falsch. In der Führerkabine ist alles picobello, nicht einmal ein Bonbonpapier liegt irgendwo rum. Und nein, das war keine Reinigungsaktion für den Abendblatt-Reporter, die Männer sind einfach pingelig, Gosch etwa ärgert sich, dass seine mit Fettflecken verunreinigte Hose noch nicht aus der firmeneigenen Reinigung zurückgekommen ist.

Rauchen ist im Fahrzeug ohnehin streng untersagt, selbst der Abendblatt-Reporter muss das Verbot vor der Fahrt als Gast unterschreiben. Eine halbe Stunde vor Schichtbeginn checkt jeder Fahrer sein Fahrzeug, prüft Licht und Reifendruck, wienert die Scheiben. Und wer während des Dienstes mal ein Bier trinken würde, wäre seinen Job sofort los.

„Arbeiten leichter und sicherer machen“

Das war nicht immer so. „Wenn du früher die Kieztour hattest, stand an jeder zweiten Kneipe ein Wirt und hat einen ausgegeben“, sagt ein altgedienter Kollege. Müllmann sei nur etwas für die ganz Harten gewesen: „An meinem ersten Tag habe ich nur eine der schweren Eisentonnen aus einem Keller gewuchtet. Da hat der Chef gesagt, wenn du morgen nicht zwei schaffst, brauchst du gar nicht erst wiederzukommen.“

Gosch schüttelt den Kopf bei solchen Erzählungen: „Heute würde ich abgemahnt, wenn ich so etwas anordnen würde.“ In der Jetzt-Zeit der Mülle laden Spezialisten wie Erich Siersleben zu Workshops wie „Arbeiten leichter und sicherer machen“. Als „Kolonnentrainer“ ist Siersleben („ich bin Müllwerker der dritten Generation, schon mein Vater und Großvater haben hier gearbeitet“) so etwas wie der Joachim Löw der Stadtreinigung.

Vor allem an Sonnabenden demonstriert Siersleben, wie Müllsäcke, Tonnen und Container möglichst rücken- und gelenkschonend getragen und geschoben werden. „Ich sage jedem neuen Kollegen: Du wirst diesen Job wahrscheinlich mehr als vier Jahrzehnte bis zu deiner Rente machen müssen. Wenn du das packen willst, musst du gesundheitsfördernd arbeiten.“

Oft fährt Siersleben mit seinem Dienst-Polo Kolonnen hinterher, beobachtet die Arbeitsabläufe, angemeldet, versteht sich, der Trainer will kein Kon­trolleur sein, sondern Kollege auf Augenhöhe. Sein täglicher Kampf gilt der „Erstmal-einen-Schlag-reinhauen-Mentalität“: „Vor allem unsere altgedienten Kollegen arbeiten oft zu schnell. Da gibt es noch den Gedanken, sich irgendwie eine Pause zu erwirtschaften. Das erhöht das Risiko für Skelett- und Muskel-Erkrankungen.“

Müllmann ist ein Knochenjob

Für das technische Zusammenspiel sorgt Fuhrpark-Chef Thomas Maas. Der Ingenieur tüftelt mit den Herstellern an den technischen Finessen der Müllautos. Die neue Niederflur-Generation etwa hat statt vier nur noch zwei Stufen beim Einstieg, gelenkschonender und vor allem sicherer. „Wir haben deutlich weniger Unfälle beim Ein- und Ausstieg“, sagt Maas.

Wer allerdings auch nur einen Tag bei der Mülle mitfahren darf, merkt schnell, dass ein Bild im Kopfkino zu 100 Prozent stimmt: Müllmann ist ein Knochenjob. Sicher, die Zeiten, als die Männer in Orange Blechtonnen mit einem Leergewicht von 25 Kilo wuchten mussten, sind lange vorbei, die Kunststofftonnen wiegen nur noch ein Drittel.

Die Arbeit ist riskant

Aber damals waren bis zu sechs Mann auf einem Fahrzeug. Jetzt sind sie oft nur zu dritt. Als Drivakos um 13:30 Uhr zum zweiten Mal an diesem Tag die Müllverbrennung ansteuert und erneut zehn Tonnen in den 30 Meter tiefen Schlund kippt, hat jeder der drei im Schnitt knapp sieben Tonnen Abfall bewegt, das Leergewicht der Behälter noch nicht eingerechnet. Drivakos und Gosch haben ihre Jahre bei der Mülle mit Bandscheibenvorfällen und Knieschäden bezahlt, vor allem das Wuchten der Tonnen über mehrere Kellerstufen greift die Gelenke an.

Und die Arbeit ist riskant. Die Gefahr lauert auf der Straße, wenn ungeduldige Autofahrer rücksichtslos über Bürgersteige überholen. Und in den gelben Müllsäcken, wo alte Spritzen auch durch klobige Handschuhe stechen können – die Angst vor einer HIV-verseuchten Nadel fährt bei jeder Tour mit. Vom Wetter ganz zu schweigen. Der Montag, an dem das Abendblatt mitfahren darf, ist zwar kalt, aber trocken. Richtig fies, sagt Zimmermann, sei Dauerregen: „Dann bist du nach einer halben Stunde komplett nass.“ Gefahren werde muss trotzdem, auch bei Schnee und Eis. Gosch deutet auf sein Handgelenk, das er sich brach, als er bei Glätte auf einer Stufe ausrutschte.

Müllwerker starten mit 2200 Euro brutto

Daran gemessen sei der Lohn – Müllwerker starten mit 2200 Euro brutto, der Lohn steigt auf 2700 Euro, Fahrer verdienen etwa 300 Euro mehr – eben doch nicht so doll. Ver.di habe zu wenig für die Kollegen erreicht, kritisiert Gosch.

In der Tat sind die goldenen Zeiten mit Lohnzuwächsen von bis zu elf Prozent und einem Zulagen-Dickicht, erstritten in den 1970er-Jahren von der Gewerkschaftslegende Heinz Kluncker, lange, lange vorbei. Bezahlte Freizeit für Behördengänge oder Bankgeschäfte, Extras für das Waschen von Klamotten, alles gestrichen. Nur eine Handvoll Kollegen, sagt Personalchef Bernhard, verdiene dank alter Verträge noch deutlich mehr.

Keine Trinkgelder zu Weihnachten

Auf die Trinkgelder zu Weihnachten müssen dagegen inzwischen alle verzichten, wer gegen das Verbot verstößt, riskiert eine Abmahnung – die Stadtreinigung will verhindern, dass auch nur der Verdacht aufkommen könnte, Müllmänner würden schwarz für unerlaubte Sonderleerungen kassieren. Die Gosch-Crew hält sich penibel daran – zum Leidwesen vieler Hamburger, die sich einfach nur bedanken möchten.

Und doch möchte keiner der drei einen anderen Job machen. „Auf unserem Wagen bin ich mein eigener Chef“, sagt Fahrer Drivakos. Keiner rede ihm rein, keiner mache Druck. Und der Zusammenhalt sei einzigartig. Im Personalratsbüro der Stadtreinigung heißt es, dass die Müllmänner schon sehr besonders ticken. Die Kollegen seien zwar immer bereit zu streiken, würden aber nach einem Arbeitskampf noch mehr schuften, damit die Stadt ruckzuck wieder sauber wird: „Die Jungs sind einfach stolz auf ihren Job.“ Personalchef Bernhard hat bei Abschieden in den Ruhestand schon manche Träne gesehen.

Für Alexandro Drivakos ist im September Schicht, er geht in Altersteilzeit. Er wird seine Kollegen dann in sein kleines Ferienhaus an der Ostsee einladen. Zum Grillen.