Neustadt. Angeklagter sticht in Hamburger Gericht auf Zeugin ein. CDU spricht von einer „schweren Panne“ in der Justizbehörde.
Gegen zehn Uhr wird der Angeklagte Chris Z. (39) von einer Justizbediensteten in Saal 183 des Strafjustizgebäudes geführt. Was niemand ahnt: Der Mann, der aktuell in der JVA Billwerder einsitzt und vor 15 Jahren einen Mord beging, hat eine selbst gebaute Waffe ins Gericht geschmuggelt: eine Rasierklinge und eine – möglicherweise damit verbundene – angespitzte Zahnbürste. Zwei Meter von ihm entfernt sitzt seine Exfreundin, die als Zeugin geladene Martina O.
Kurz nachdem sich die 25-Jährige von Chris Z. getrennt hatte, soll der Angeklagte ihr am 20. Dezember 2015 mit der Faust ins Gesicht geschlagen und ihr gedroht haben, er werde „wieder durchdrehen“. Danach soll er ihre Wohnung in Billstedt verwüstet haben. Als kurz darauf alarmierte Polizisten eintrafen, ging der Mann mit einem Küchenmesser auf die Beamten los. Sie feuerten vergeblich mehrere Warnschüsse ab, Chris Z. konnte erst durch einen Beinschuss gestoppt werden.
Im Sommer 2016 verurteilte ihn das Amtsgericht wegen gefährlicher Körperverletzung zu 16 Monaten Haft. Chris Z. und die Staatsanwaltschaft waren dagegen in Berufung gegangen – am Dienstag sollte erneut verhandelt werden.
Angeklagter verletzt auch Staatsanwalt
Am Dienstagmorgen, kurz nach Prozessbeginn: Oberstaatsanwalt Lars Mahnke befragt gerade Zeugin Martina O. zur Tat, als Chris Z. plötzlich von seinem Stuhl aufspringt. Er umrundet den Tisch, läuft zu seiner Ex-Freundin, zerrt sie vom Stuhl, würgt sie. Sein Verteidiger Tim Burkert und Mahnke reagieren sofort. Sie eilen Martina O. zu Hilfe, wollen den Mann von der schreienden jungen Frau wegreißen. Dabei verletzt Chris Z. offenbar seine Ex-Partnerin und den Staatsanwalt mit der selbst gebauten Waffe. Gemeinsam gelingt es den beiden Männern, den Angeklagten in eine Ecke zu drängen. „Plötzlich sind zwei Männer über die Absperrung in den Verhandlungsraum gesprungen“, sagt ein Augenzeuge. Wie sich später herausstellt, handelt es sich um zwei Brüder des Angeklagten.
Im Gericht herrscht jetzt ein heilloses Durcheinander. Der Saalalarm ist ausgelöst worden, etliche Justizbedienstete sind auf dem Weg. Einem der Brüder gelingt es schließlich, Chris Z. festzuhalten. Der 39-Jährige hat eine „klaffende Wunde“ am Hals – möglicherweise hat er sie sich selbst zugefügt. Minuten später trifft auch ein Großaufgebot der Polizei am Tatort ein. Staatsanwalt Mahnke und die Zeugin werden ambulant versorgt, sie haben Schnittwunden erlitten, müssen aber nicht ins Krankenhaus. Chris Z. wird indes auf die Krankenstation der Untersuchungshaftanstalt gebracht.
Wie kam der Angeklagte an die Waffe?
Völlig offen ist bisher, wie es dem Angeklagten – immerhin ein verurteilter Gewalttäter – gelingen konnte, eine Klinge in einen Gerichtssaal zu schmuggeln. Und: Warum begleitete ihn nur eine Justizvollzugsbeamtin? Der ganze Fall ist umso irritierender, weil eine derartige Zuführung ins Gericht einer strengen Sicherheitsprozedur folgt. So werden Gefangene aus der JVA Billwerder bereits durchsucht, bevor sie den Transportbus besteigen, sagt Marion Klabunde, Sprecherin der Justizbehörde.
In der U-Haftanstalt am Holstenglacis werden die ankommenden Gefangenen ein weiteres Mal gefilzt. Schließlich müssen sie unmittelbar vor Verlassen der Haftanstalt noch einen Metalldetektor passieren – erst dann werden sie ins nur wenige Meter entfernte Gericht gebracht. „Möglicherweise war die Einwegklinge so dünn, dass sie von den Detektoren nicht entdeckt werden konnte“, vermutet ein Hamburger Strafverteidiger. Warum den Justizbediensteten aber weder die Einwegklinge noch die angespitzte Zahnbürste auffielen, ist bisher unklar. „Wie die Abläufe bei dem aktuellen Fall waren, wird gerade geprüft“, so Klabunde weiter.
CDU spricht von „schwerer Panne“
Richard Seelmaecker, justizpolitischer Sprecher der CDU-Bürgerschaftsfraktion und einer der schärfsten Kritiker von Justizsenator Till Steffen (Grüne), spricht bereits von einer „neuen schweren Panne“ innerhalb der Behörde. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Angeklagte in der JVA Billwerder als „schwieriger Gefangener“ bekannt gewesen sei. „Wieso es keine besondere Sicherungsmaßnahmen gab, werden wir nun aufklären.“
Nach Abendblatt-Informationen soll Chris Z. nach einem Streit mit einem anderen Häftling von der U-Haftanstalt am Holstenglacis in die JVA Billwerder verlegt worden sein, dort gilt er als „schwieriger Charakter“, wie aus Vollzugskreisen verlautete. Ob Chris Z. dort tatsächlich als hochproblematischer Fall eingestuft wird, will die Justizbehörde nun prüfen.