Hamburg. Der 85-jährige Claus Günther tritt regelmäßig in Eimsbüttel auf. Nun hat er über seine Jugend unter Hitler geschrieben.
Das Mathilde-Literaturcafé an der Bogenstraße ist rappelvoll, so wie eigentlich immer an jedem ersten Dienstag im Monat, wenn der traditionelle „Themenslam“ auf dem Programm steht, seit gut zehn Jahren schon. An diesem Abend geht es ums Thema „Hosen“, und Claus Günther, ein zartgliedriger, etwas kleinerer Mann mit weißem Haar, geht federnden Schrittes auf den „Orga-Tisch“ zu, der den teilnehmenden Autoren vorbehalten ist, und nimmt Platz. „Claus ist von Anfang an dabei“, sagt Mathilde-Betreiber Thomas Nast, „er gehört quasi schon zum Inventar.“
In diesem Jahr wird Claus Günther seinen 86. Geburtstag feiern, an diesem Dienstagabend wird er ein Gedicht mit 27 Strophen vortragen, in dem er die Geschichte eines gewissen Harry erzählt, der dringend neue „Schlüpper“ benötigt und während des Einkaufens die Vorteile des „Eingriffs“ preist:
Da lob ich mir meine alten.
Einen Eingriff haben die – !
Bisschen fingern, ziehen, halten,
schwupp! Da ist er. Ce la vie!
Um es vorwegzunehmen: Das vorwiegend jüngere Publikum applaudiert amüsiert und kürt ihn an diesem Abend zum Sieger des Wortgefechts.
Ungewöhnlicher Text
Dabei war es eher ein ungewöhnlicher Text für den Mann, der eigentlich Journalist werden wollte, wegen seines fehlenden Abiturs 1950 jedoch auch vom Hamburger Abendblatt nicht als Volontär angenommen wurde; daraufhin eine Schriftsetzerlehre begann, die er jedoch nach einem halben Jahr abbrach, bevor er dann über zahlreiche Umwege und Stationen schließlich im Otto Versand landete, wo er über 20 Jahre lang als Texter und Lektor für die Kataloggestaltung, für die firmeneigene Hauszeitung und „für eigentlich alle Schreiben zuständig war, die in einem großen Konzern täglich anfallen“, sagt Claus Günther und nippt an einem Yogi-Tee.
Günther ist einer der wenigen noch lebenden Zeitzeugen, die das Dritte Reich und dessen entsetzliche Folgen bewusst miterlebt haben – als junge Menschen –, und der überdies in der Lage ist, die Erlebnisse und Beobachtungen eines Heranwachsenden in den dunkelsten Stunden Deutschlands für die nachfolgenden Generationen nicht „dem Vergessen preiszugeben, eben zu bewahren“.
Nachdenklich stimmende Kurzgeschichten
Das tut er, indem er zum Teil sehr nachdenklich stimmende Kurzgeschichten schreibt, die er auf zahlreichen Poetry-Slam-Veranstaltungen vorträgt; die fast immer autobiografisch sind und nicht zuletzt auch selbstkritisch. „Ich habe ja irgendwie auch Glück gehabt“, sagt Claus Günther, „denn wäre ich nicht 1931 geboren worden, sondern ein paar Jahre vorher – wer weiß, vielleicht wäre ich ja auch einer von denen geworden.“ Mit „denen“ meint er natürlich: Nazis.
Gründungsmitglied des Vereins „Zeitzeugen“
Als Gründungsmitglied des Vereins „Zeitzeugen“ hält er immer wieder Vorträge in Schulen und erzählt den jungen Menschen, wie es damals wirklich gewesen sei; wie er 1938 als Siebenjähriger mit seinen Spielkameraden einen jüdischen Nachbarsjungen bepöbelt habe: „Wir sangen ‚Itzig, Itzig, Judenschwein‘, und darauf hin ist einer der größeren Brüder des Jungen zu uns runter auf die Straße, in Harburg, wo wir damals wohnten. Ich hab eine geschallert gekriegt, und der Junge sagte zu mir: ‚Das tut man nicht. Juden sind auch Menschen!‘ Die Familie hieß Schloss. Mir wird immer noch speiübel, wenn ich heute daran denke, wie man uns Kinder manipuliert hat. Und von meinem Vater war Aufklärung nicht zu erwarten, denn der sprach immer von der ‚Schande des Versailler Vertrages‘ – ja, er war schon so was wie ein Mitläufer. Nach dem Krieg durfte er ja auch fast fünf Jahre nicht arbeiten.“
Kein Blatt vor dem Mund
Claus Günther nimmt kein Blatt vor den Mund, sondern schreibt und erzählt freimütig über seine Kindheit und Jugend zwischen 1933 und 1950. „Und wenn ich dann vor einer Klasse erzähle, dass man eben diese Familie Schloss 1941 ebenfalls abgeholt und in Minsk umgebracht hat …“ Die Resonanz, die die Zeitzeugen von den Schülern und Lehrern erführen, sei jedenfalls beeindruckend. „Wenn wir auch nur einen einzigen gefährdeten Jugendlichen davon abbringen können, sich in irgendeiner Weise extremistisch zu betätigen, haben wir doch schon was gewonnen“, sagt Claus Günther. „Aber viele von uns sind inzwischen über 90, und so fehlt es uns leider an Nachwuchs. Aber wir sollten unbedingt verhindern, dass sich die Geschichte wiederholt.“
Deshalb hat Claus Günther sich in den vergangenen Monaten länger als sonst an seinen Schreibtisch in Stellingen gesetzt und sich von seiner Frau Ingrid, mit der er seit über 60 Jahren verheiratet ist, „den einen oder anderen Kaffee bringen lassen“. Er hat zum großen Wurf ausgeholt und eine Art Autobiografie geschrieben, die bezeichnenderweise „Heile, heile Hitler“ heißt, und in der er auf über 550 Seiten das Leben seines Helden Peter Littich erzählt – ein dokumentarischer Roman.
Gelungen ist ihm damit ein packendes, lebendiges und sehr lesenswertes Stück Hamburger Zeitgeschichte, das literarisch zweifellos auch höheren Ansprüchen genügt. „Ich schildere halt die Nazizeit von innen, mit den Augen eines Kindes und Jugendlichen gesehen“, sagt Claus Günther und wehrt mit seinen Händen aufkeimende Gratulationen der anderen Slammer in der Mathilde prophylaktisch ab, als er das Buch auf den „Orga-Tisch“ legt. „Na ja, es ist, wenn man so will, mein Vermächtnis.“