Hamburg. Festival „Into Iceland“ endete mit NDR-Gastdirigent Esa-Pekka Salonen und Filmmusiker Jóhann Jóhannsson.

Um weit nach ein Uhr nachts, nach zwei Elbphilharmonie-Konzerten hintereinander, hinaus, zurück in die Wirklichkeit, zurück in die Nacht? Auch das hat was. Ein überlanger Abend ging dieser Spätschicht voran, mit zwei – jedenfalls auf den ersten Blick – sehr konträren Konzerterlebnissen, die beide mit dem NDR-Festival-Themeninselchen „Into Iceland“ verbunden waren. Als Spätschicht hatte es Musik für Filme vor dem inneren Auge gegeben, davor Großorchestrales aus dem 20. und 21. Jahrhundert.

Abenteuerurlaub für die Ohren

Von Mitternacht an hatte der isländische Filmmusik-Star Jóhann Jóhannsson mit seinem kleinen Ensem­ble auf der Bühne des Großen Saals unabsichtlich passend auf ein Stück der isländischen Komponistin Anna Thorvaldsdottir reagiert. Ihr Instrumental-Fresko „Aeriality“ ist eine faszinierend eigenartige Landschaftsvertonung, ein unpauschaler Abenteuerurlaub für die Ohren, dort, wo es weht und knarzt. Diese menschenleere, archaische Musik aus mächtigen Klangschollen erinnert an die schroff-schöne Natur der Insel am Rande der Welt, die auch verstörend Unirdisches haben kann.

Bei Esa-Pekka Salonen, dem das NDR Elbphilharmonie Orchester offenkundig sehr gern jeden Wunsch von der Gastdirigenten-Taktstockspitze abliest, war dieses Panorama beim ersten Konzert des Abends in den denkbar besten Händen. Er kam mit der Unberechenbarkeit der grummelnden, blubbernden, brodelnden, elegisch aufleuchtenden Impulse nicht nur gut, sondern fast schon lässig klar, lenkte die Dur-Suppe als Strom aus Tonspuren und Akkordbrocken, der sich wuchtig seinen Weg suchte, während Salonen gekonnt die Schleusen öffnete. Und das Orchester lieferte, virtuos, instinktiv, mit bestechender Präzision.

Jóhannsson komponierte für den Film „Arrival“

Und Jóhannssons Experimente wiederum, die für ein „NDR NEO“-Clubkonzert erstmals in den Großen Saal der Elbphilharmonie vorgelassen wurden, sind das genaue Gegenteil. Er hat in den vergangenen Jahren einige der sonderbarsten Soundtracks konstruiert, die es bis in Oscar-Nähe geschafft haben, für das Science-Fiction-Gedankenspiel „Arrival“ oder „Die Entdeckung der Unendlichkeit“ über Stephen Hawking, demnächst folgt die Fortsetzung von „Blade Runner“. Jóhannsson formt am liebsten düstere, elegische, pathetische, eigenbrötlerische, lichtscheue Grübeleien ins Nichts hinter der Leinwand. Kurze Motivideen nur, wie vom Minimal-Altmeister Philipp Glass, aber in Superzeitlupe oder Satie à la David Lynch. Themen, die mit manischer Tristesse einen Ausweg ins Hellere suchen, aber sehr oft grundiert mit bedrohlich nachtschwarz brummenden Basslinien, die alles oberhalb dieser Töne infrage stellen.

Während ein Streichquintett, ein Keyboarder und ein Gitarrist tatsächlich Hand an ihre Instrumente legten, stand Jóhannsson, von flackernden Lichtspielereien umgeben, wie festgefroren neben dem Flügel, mit der Körpersprache von Kafkas Türhüter. Nur hin und wieder griff er mit Piano-Einwürfen lenkend ins Pathos seiner Kammermusik ein oder startete ein gutes altes Tonbandgerät, um als Verfremdungseffekt knisternde Klangschleifen oder für einen Titel aus seiner Ovid-Vertonung „Orphée“ eine Zahlen aufsagende Kinderstimme aus dem Kurzwellensender-Irgendwo hinzuzufügen. Sehr speziell, sehr tiefgründig.

Der Raum als Teil des Stücks

Vier Stunden zuvor hatte Salonen sein Konzert mit der dazu passenden Frage begonnen, indem er Ives’ „The Unanswered Question“ dirigierte: Vier Flöten, sonst niemand, auf der abgedunkelten Bühne, neben der die Treppenstufenbeleuchtungen immer wieder irgendwo begannen und ziellos endeten, ein weiterer Scheinwerferkegel auf Salonen, die Streicher und die Solo-Trompete unsichtbar hinter dem Podium. Immer drängender wurde durch die vier Solisten um Erleuchtung gebeten, immer wieder wurden sie durch die entrückten Streicherpassagen ignoriert. So gesehen war der Raum an sich Teil dieses Stücks, und damit war Ives’ Existenzialismus-Etüde, ein Jahrhundert alt, ein perfekter Einstieg in die aktuelle musikalische Selbst­befragung dieses Orchesters.

Für diesen Anlass hatten der NDR und das Los Angeles Philharmonic – Salonens früheres Orchester – beim Isländer Haukur Tómasson ein Klavierkonzert bestellt, den Uraufführungs-Solopart übernahm sein Landsmann Víkingur Ólafsson. Ein interessantes Stück, ansprechend virtuos verschachtelt und ständig in phrasenversetzter Bewegung, viel mehr aber auch nicht. Notenmengen und fleißige Motorik allein ergeben nicht zwangsläufig eine spannende Aussage.

Mit Island hatte das nichts zu tun

Deutlich beeindruckender war anschließend Strawinskys „Feuervogel“-Ballettmusik, für Salonen, dem der Drive dieses Komponisten liegt, ein Bravourstück, nicht zuletzt auch, weil der Finne als Eröffnungs-Chefdirigent in der Walt Disney Concert Hall wohl wie kein anderer Orchester-Dompteur weiß, was man in einem Saal des Akustikers Yasuhisa Toyota tun und lassen sollte. Also ließ er es in Hamburg, in Toyotas frischem Opus, in HD funkeln, lodern und fackeln; Salonen lud die NDR-Instrumentalsolisten ein, sich in Kurzauftritten zu entspannen und frei zu fühlen. Beim Finale ließ er das Tutti von der Kette und führte, als wäre es für ihn gemacht worden, ein faszinierendes Handlungsballett am Pult auf, jede Bewegung, jede Geste synchron zur Musik, die vor ihm aufbrauste. Mit Island hatte das zwar nichts zu tun, umso mehr mit Hingabe und Können.