Hamburg. Die Frage, ob ein Alzheimer-Betroffener noch geschäftsfähig ist, wird Juristen immer mehr beschäftigen.

Nach 62 Minuten schloss der Vorsitzende Richter Ronald Hinz am Mittwoch die Verhandlung im Saal A213 des Landgerichts am Sievekingplatz. Freundlich verabschiedeten sich Kläger und Beklagte, nichts war in diesem Moment mehr von dem juristischen Scharmützel um das Erbe der demenzkranken Millionärin Ursula Kühling zu spüren. Mehrere Jahre hatte der Streit zwischen Hamburger Stiftungen um das Vermögen der Witwe eines hochrangigen Managers der Bismarck-Dynastie in Friedrichsruh Anwälte wie Richter in Atem gehalten. Am vorläufigen Ende stand wie so oft vor Zivilgerichten ein Vergleich – ein Kompromiss, mit dem alle Seiten irgendwie leben können.

Im Juni 2016 hatte das Abendblatt in einer Titelgeschichte im Magazin über das Drama von Ursula Kühling berichtet. Ein Fall, der in der deutschen Rechtsgeschichte seinesgleichen sucht. Eine ebenso vermögende wie einsame Frau gerät nach dem Tod ihres Mannes in ihrer Villa am Schlossteich in Friedrichsruh in die Fänge falscher Freunde, die nur ihr Bestes im Auge haben: ihr Geld. Sie verliebt sich 2007 in einen gelernten Schlosser, liefert sich ihm völlig aus.

Zivilrechtliche Auseinandersetzung

Der pensionierte Handwerker kauft aus ihrem Vermögen Immobilien, Autos und Schmuck, ändert das Testament zu seinen Gunsten, bis er selbst zum Opfer eines Notars und eines Maklers wird, die mit Hamburger Rotlicht-Größen die Macht am Schlossteich übernehmen. In Lübeck läuft gerade der zweite Strafprozess in diesem Fall, der Schlosser verbüßt bereits seine mehrjährige Freiheitsstrafe in Neumünster.

Doch abseits aller Strafverfahren gerät jetzt die zivilrechtliche Auseinandersetzung in den Blickpunkt. Was wird aus dem Erbe von insgesamt rund acht Millionen Euro? Und losgelöst von diesem spektakulären Einzelfall geht es dabei um eine grundsätzliche Frage: Ab wann ist jemand durch seine Demenz nicht mehr in der Lage, die Folgen seines Tuns einzuschätzen? Ab wann ist er geschäftsunfähig?

Problem immer brisanter

Richter Hinz machte direkt zu Beginn der Verhandlung klar, dass dieses Problem in den kommenden Jahren immer brisanter werden wird – eine logische Folge der Überalterung unserer Gesellschaft: „Wir haben uns bereits in mehreren ähnlich gelagerten Fällen mit dem Thema Demenz beschäftigen müssen.“ Es habe jetzt sogar eine entsprechende Fortbildung für Richter gegeben.

Der Fall Kühling taugt hier als Lehrbeispiel. Typisch für Alzheimer entwickelte sich ihre Erkrankung über mehrere Jahre, es gibt bei Demenz nicht die scharfe Trennlinie zwischen noch klarem Verstand und geistigem Verfall. Die Besonderheit bei Ursula Kühling: In dem Testamentsstreit standen sich am Ende nicht Privatpersonen, sondern Stiftungen unversöhnlich gegenüber.

Der Schlosser hatte nämlich 2011 die glorreiche Idee, die Hälfte des Vermögens seiner damaligen Lebensgefährtin, also gut vier Millionen Euro, in eine Stiftung zu übertragen, um sie vor dem Zugriff des Bruders von Ursula Kühling zu schützen. Ein renommierter Hamburger Jurist, spezialisiert auf dieses Gebiet, richtete die „Ursula-Kühling-Stiftung“ ein, mit der vor allem die Box-Akademie in Jenfeld unterstützt werden sollte, ein Projekt für Jugendliche in einem sozialen Brennpunkt.

Aus der Stiftung sollte Kühling jedes Jahr 120.000 Euro erhalten. Nach ihrem Tod sollte ihr Lebensgefährte monatlich mit 3000 Euro bedacht werden. Allerdings hatte sich der findige Handwerker die auf ihn ausgestellte Vorsorgevollmacht aus dem Internet besorgt und illegal um zwei Jahren zurückdatiert.

Jurist hatte gewichtiges Gegenargument

Vor allem aber hatte er zuvor ihr Testament ändern lassen, die ursprünglich eingesetzten Erben, die Evangelische Stiftung Alsterdorf, die Wichern-Gemeinschaft Reinbek, die SOS Kinderdorf Zentrale in München sowie das Albert-Schweitzer-Kinderdorf Hanau sollten leer ausgehen. Durfte der Anwalt überhaupt noch diese Stiftung gründen? Hätte ihm auffallen müssen, dass Ursula Kühling an Alzheimer litt? Der Jurist konnte vor Gericht auf ein gewichtiges Gegenargument verweisen.

Ein von ihm beauftragter Notar hatte vor der Gründung der Stiftung Kühlings Geschäftsfähigkeit bescheinigt. Dagegen steht, dass die Millionärin im November 2010 bei einem Alzheimer-Test im UKE nicht einmal mehr das Zifferblatt einer Uhr zeichnen konnte, die Ärzte diagnostizierten ein „mittelschweres demenzielles Syndrom“. Für die ursprünglich eingesetzten Erben war der Fall damit klar: Die Stiftung muss rückabgewickelt werden. „Uns geht es dabei vor allem um den ursprünglichen Willen der Verstorbenen. Diesen zu schützen, entspricht dem Geist unserer Stiftung“, erklärte Alsterdorf-Chef Hanns-Stephan Haas.

Keine klaren Sieger

Richter Hinz machte am Freitag direkt zu Verhandlungsbeginn um 14 Uhr klar, dass es auf der Basis der vorgestellten Fakten keinen klaren Sieger geben werde. Vor allem drohe ein langes Verfahren mit mehreren neuen Gutachten. Der sanfte Druck zu einem Kompromiss wirkte. Nach nur zehn Minuten Beratungszeit verständigten sich die Parteien auf einen Vergleich: Der Jurist zahlt aus dem Stiftungsvermögen 60 Prozent, also rund 2,4 Millionen Euro an die Erbengemeinschaft aus, mit den verbleibenden 1,6 Millionen Euro kann die von ihm gegründete Stiftung weiter Projekte wie in Jenfeld fördern.

Auch die Villa am Schlossteich in Friedrichsruh
erben die Stiftungen
Auch die Villa am Schlossteich in Friedrichsruh erben die Stiftungen © HA | Marcelo Hernandez

Ein Detail hätte den Kompromiss beinahe verhindert. Der Schlosser hatte aus dem Stiftungsvermögen Anteile für 500.000 Euro an einem Bürogebäude am neuen Berliner Flughafen gekauft – ohne Wissen des Anwalts. Viele Anleger prozessieren inzwischen gegen die Fondsgründer – verständlich, die Anteile sind inzwischen nur noch 50 Prozent wert.

Der Jurist konnte jedoch darauf verweisen, dass die Stiftung den Verlust von 250.000 Euro dank erfreulicher Gewinne mit Aktien wieder ausgleichen konnte, das Anlagevermögen also stabil geblieben ist. Ganz wichtig war ihm ein anderer Punkt. Die Schriftsätze der Gegenseite seien „zutiefst ehrverletzend“ gewesen, er sei dort wie ein Betrüger gebrandmarkt worden. Die Erbengemeinschaft nahm die Anwürfe zurück. Als der Zeiger der Uhr im Saal A213 auf 15:02 sprang, war der Friedensschluss von Hamburg perfekt.

Nächsten juristischen Duelle sind schon in Sicht

Die nächsten juristischen Duelle sind indes schon in Sicht. Fieberhaft versucht die Erbengemeinschaft, noch Bargeld, Schmuck und Autos zu sichern, die sich Kühlings falsche Freunde unter den Nagel gerissen haben. Dabei geht es unter anderem um einen Bulgari-Ring im Wert von 120.000 Euro, den der Schlosser einst im Züricher Bahnhofsviertel für seine Lebensgefährtin gekauft hatte.

Ob bei den Tätern, die bereits verurteilt wurden, oder den Beschuldigten, denen gerade der Prozess gemacht wird, noch viel zu holen ist, bleibt indes zweifelhaft. So gesehen, meinte der Richter bei der gestrigen Verhandlung, sei die Gründung der Ursula-Kühling-Stiftung am Ende doch wertvoll gewesen: „Auf diesem Weg wurde ihr Vermögen vor fremdem Zugriff geschützt.“