Hamburg. Birgit Fischers Singstimme haben viele Menschen schon gehört. Nun setzt sie ihr Medizinstudium aus den 90er-Jahren fort.
Das späte Comeback hat sie akribisch vorbereitet. Sogar einen Kurs im Schnell-Lesen hat sie belegt. Um Zeit zu sparen, wenn sie sich durch wissenschaftliche Bücher arbeiten muss, aber auch um ihre grauen Zellen grundsätzlich zu fordern. „Lernen ist ein Glücksfaktor, jedenfalls für mich“, sagt Birgit Fischer. „Wie im Sport kommt man dabei an seine Grenzen. Und das Gehirn merkt: Da muss es etwas wachsen lassen.“
Um zu Erkenntnissen wie diesen zu gelangen, muss sich Fischer nicht besonders anstrengen. Nach dem Abitur hat sie bis zum Physikum Medizin studiert, derzeit schreibt sie ihre Doktorarbeit. Sie weiß, was die Forschung über die Funktionsweise des menschlichen Gehirns herausgefunden hat. Dazu gehört zwar, dass Lernen im Alter schwerer fällt, aber ebenso, dass sich nicht nur Muskeln alle 15 Jahre erneuern, sondern auch Nervenzellen. Und zwar in jenem Teil des Gehirns, der zuständig ist für die Verarbeitung neuer Informationen, das Lernen und das Gedächtnis.
„Eine wunderbare Einrichtung der Natur“, sagt Fischer. Entsprechend souverän gibt sie Auskunft, wenn Anfragen kommen, wie es sich anfühlt, mit 48 Jahren Studentin zu sein. Zwar nicht grauhaarig, aber erkennbar älter inmitten junger Menschen, die ihre Kinder sein könnten. „Anfangs gab es zwar Berührungsängste. Aber mittlerweile sind wir eine tolle, gemischte Lerngruppe, in der jeder von jedem profitiert.“ Und falls es doch mal schräge Blicke gab, hat sie die gelassen übersehen.
Pläne schon früher ambitioniert
Dass mehr als 20 Jahre vergingen, ehe sie den einstmals eingeschlagenen Berufsweg weiterging, hat etwas mit Lebensträumen zu tun. Die kleine Biggi, Tochter eines Lokführers und einer Sekretärin, trug als Kind entweder einen Arztkoffer mit sich herum und „behandelte“ jedes Tier und jeden Menschen, der nicht schnell genug Reißaus nehmen konnte. Oder sie schnappte sich irgendwelche Gegenstände, verwandelte sie in ihrer Fantasie in ein Mikrofon und trällerte los. „Ich habe damals schon Konzerte in Hauseingängen gegeben“, sagt Fischer und lacht dieses laute Lachen, das ihr Markenzeichen ist. Es signalisiert: Hier ist eine Frau, die zu sich steht und weiß, was sie kann.
So war es nicht verwunderlich, dass sie als Medizinstudentin in den 90er-Jahren die vorklinische Phase ihres Studiums mit Bravour abschloss, sich dann aber überlegte, ein Jahr auszusteigen und sich ihrer zweiten Lebensliebe zu widmen, dem Gesang. Die Eltern fanden es zwar wenig schlau, waren aber so glücklich darüber, dass die Tochter auf dem Weg zum sozialen Aufstieg war, und so gönnten sie ihr die, wie alle dachten, zeitlich begrenzte Auszeit. „Niemand ahnte, was sich daraus entwickeln würde. Auch ich nicht.“
Dabei waren auch damals schon die Pläne der ehrgeizigen jungen Frau ambitioniert. Ein Plattenvertrag und eine eigene CD waren das Ziel. Seit ihrem 18. Lebensjahr sang sie in einer eigenen Band, hatte Erfahrungen als Kirchenchorsängerin. Das musste etwas werden. Der Erfolg mit Motorsheep, so hieß ihre Combo, ließ dann zwar auf sich warten, doch die Musikszene mit ihrem unkonventionellen Lebensstil packte sie. Statt weiter Medizin zu pauken, den bürgerlichen Weg vor Augen, bog sie ab, ging an die Hochschule für Musik und Theater, studierte Popularmusik sowie systematische Musikwissenschaften. An der Sängerakademie in Hamburg ließ sie sich in Popgesang ausbilden, in New York nahm sie Privatstunden. 1997 wurden die künstlerischen Mühen erstmals belohnt. Fischer und ihre Band belegten den ersten Platz beim John Lennon Talent Award, die Plattenfirma Motor Music nahm sie unter Vertrag. Ihre Single „The Little Dancer“ schaffte es in den Musiksender MTV. Und auch beim Bayerischen Musikpreis waren sie dabei.
Dann allerdings stockte die angestrebte internationale Karriere. 2001 löste sich die Band auf. Parallel hatte Fischer längst Kontakte in die Studiomusikszene geknüpft, fand Arbeit als Sängerin, überwiegend in der Werbung. Mercedes, Telekom, Dr. Oetker, Nivea – die Liste der Unternehmen, deren Spots sie einsang, ist lang. Auch für die Filmmusik von TV-Serien wie „Tatort“ oder „Der Fahnder“ wurde sie gebucht. „Viele Menschen in Deutschland kennen meine Stimme, aber nicht mein Gesicht.“ Für das Label Pussy Empire nahm sie mit einer Sängerinnengruppe um die inzwischen verstorbene Schauspielerin Chantal de Freitas als The Stewardessen Coverversionen 13 berühmter Hits auf. „Mensch“ von Herbert Grönemeyer interpretierten die fünf Frauen ebenso eigensinnig wie „Türlich, Türlich“ von Das Bo oder „Is It ’Cos I’m Cool?“ von Mousse T.
Nebenbei baute sich Fischer, die de Freitas auch als Vocalcoach betreute, einen Kundenstamm für private Auftritte auf. „Ich musste Geld verdienen.“ Dennoch hätte sie entspannt alt werden können als Profisängerin, Songschreiberin und Dozentin für Gesang. „Im Studio spielt es keine Rolle, ob man Falten hat oder nicht.“ Auch ihr Terminkalender war stets mit Gala-Auftritten für Firmen, Hochzeiten oder Jubiläumsfeiern gut gefüllt. 50 bis 60 Auftritte pro Jahr waren die Norm. Das bedeutete zwar in der Regel einen 20-Stunden-Tag, doch für den gefühligen Ausgleich gab es einen Lebensmann sowie Labradorhündin Lucy. Wäre da nicht irgendwann das immer stärker werdende Gefühl von Nicht-mehr-ausgefüllt-Sein, von Auf-der-Stelle-Treten gewesen, alles hätte gut so weiterlaufen können.
Facharztausbildung in Richtung Psychiatrie und Psychotherapie
„Irgendwie hatte ich das Medizinstudium all die Jahre als Option im Hinterkopf“, sagt Fischer. „Ich dachte allerdings auch, das kann ich mir jetzt nicht mehr leisten. Ich muss arbeiten.“ Als sie jedoch immer öfter in privaten Gesprächen auch mit den lange schon getrennt lebenden Eltern über den unvollendeten Lebensweg als Ärztin sprach, war es der Vater, der die Initialzündung gab. „Er bot an, mich finanziell ein bisschen zu unterstützen. Er sei stolz, wenn ich das machen würde.“ Und weil auch die Mutter zuriet: „Trau dich, du schaffst es“, wagte die Tochter den späten Neuanfang. „Man kann mehr, als man denkt“, lautet heute ihre Botschaft.
Sie schrieb sich wieder an der Uni in Hamburg ein, war glücklich, als ihre alten Scheine anerkannt wurden. Noch glücklicher, als es auch kein Problem bei den Bewerbungen um klinische Praktika gab. Im Gegenteil. „Ein Mensch mit so viel Erfahrung, wie ich sie habe, wird gern genommen.“ Dass anfangs die eine oder andere Überschätzung ihres praktischen Könnens einherging, meisterte Fischer authentisch. „Auf die Anfrage: ,Legen Sie schon mal den Zugang‘, habe ich ehrlicherweise geantwortet: ,So weit bin ich noch nicht.‘“ Das Thema ihrer Doktorarbeit sind die Lebensumstände von Menschen, die den Krebs überlebt haben. Ihre Erkenntnis: „Wir brauchen eine bessere Nachsorgestruktur in Deutschland und damit verbunden mehr finanzielles Investment.“ Oftmals erliegen Kranke, die den Krebs erfolgreich besiegt haben, zehn oder mehr Jahre später den Folgen der Krebstherapie.
Ihre Facharztausbildung soll in Richtung Psychiatrie und Psychotherapie gehen. Private Erfahrungen mit einer schizophrenen Tante, die sich irgendwann umbrachte, haben das berufliche Interesse am Zusammenspiel zwischen Seele und Körper intensiviert. Dass sie mutmaßlich erst mit Mitte 50 fertig ist, schreckt Fischer nicht ab. „Mut und Selbstbewusstsein habe ich von klein auf in meinem Elternhaus ausleben dürfen.“ Und nein, die Rente mit 67 sei für sie kein Thema. 20 Jahre Arbeit, so sie denn gesund bleibe, plane sie ein. Und ja, auch oder gerade mit diesem Lebenslauf könne man eine gute Ärztin sein.
Lucy, inzwischen ein „Scheidungshund“, langweilt sich am Cafétisch. „Mein Baby“, sagt Fischer liebevoll und krault das schwarze Fell. Eigene Kinder zu haben hat sie sich nicht getraut. „Ich hatte immer Angst, ihnen in meiner Lebenssituation nicht gerecht werden zu können.“ Der Preis für ein selbstbestimmtes Leben in unberechenbaren Bahnen. Das hat sich geändert. Derzeit fordern alle drei Monate Prüfungen den vollen Einsatz ihrer Gehirnzellen. „Schon der Weg ist das Ziel“, sagt Birgit Fischer. Demnächst Frau Dr. Fischer.