Hamburg. Was dagegen? Wie sich der Werber Hartwig Keuntje nach einer Lebenskrise neu orientierte und zu einem der besten in der Branche wurde.
Der Aufpasser ist immer dabei. Wenn Gefahr besteht, dass sich Hartwig Keuntje mal wieder zu viel vornimmt, dann pfeift er ein bisschen lauter als normal. Eine letzte Warnung sozusagen. „Vor zu viel Turbo“, sagt Keuntje. „Dann schalte ich einen Gang runter. Die Mahnung, dosierter zu arbeiten, habe ich irgendwann verstanden.“
Tinnitus seit 20 Jahren
Mehr als 20 Jahre hat er schon Tinnitus. „Man lernt, damit zu leben. Ihn zeitweise zu vergessen.“ Damals, 1995, als er sich eines Abends in einer Kneipe nachdrücklich bemerkbar machte, dauerte es ein Weilchen, ehe der Rund-um-die-Uhr-Arbeiter den ungebetenen Warner ernst nahm. Als er es tat, war es zu spät für Maßnahmen, ihn wieder loszuwerden. Stattdessen verließ Keuntje seinen Arbeitgeber, die Werbeagentur Jung von Matt, wo er als Mitarbeiter Nummer 17 und Kreativ-Direktor den Aufschwung des inzwischen börsennotierten Unternehmens so ziemlich von Anfang an mitgestaltet hatte. Geliebtes Engagement auf Kosten der Gesundheit. Ein halbes Jahr machte er Pause, ehe er sich als Selbstständiger wieder ins Geschäft einmischte. Nichts vorzuhaben ist nicht so sein Ding. Ehefrau Petra, eine Psychologin, half ihm beim Austarieren der Pole Anspannung und Entspannung. Yin und Yang.
Mit grünem Tee
Hartwig Keuntje (55), sehr schlank, modisch gekleidet in einen Tweed-Anzug, hat sich grünen Tee und einen Apfelkuchen mit Sahne bestellt. Essen könne er so viel er wolle, erzählt er. „Meine innere Unruhe verbrennt die Kalorien schneller, als ich nachladen kann.“ Beneidenswert. „Dafür habe ich jede Menge Falten.“ Bei Frauen würde man sagen, eine Folge der Entscheidung: Kuh oder Ziege. Keuntje lacht. Der Kranz um die Augen zieht sich zusammen. Das passiert ziemlich oft, er hat Humor und kann vor allem über sich selbst lachen. Ein Mann, der weiß, was er will und was er kann. „Erfolg haben und trotzdem kein Arschloch sein.“
Ende der 90er-Jahre jedenfalls, als er sich tinnitusbedingt neu orientieren wollte und musste, tat er dies mit seinem Schulfreund Dominik Philipp – wie er fünf Jahre erst bei Springer & Jacoby und danach bei Jung von Matt in Führungspositionen tätig. Er hatte zuletzt Audi betreut, und der Kunde war bereit, ihm zu folgen, als JvM die Zusammenarbeit mit dem Autohersteller beendete. „Lass uns eine eigene Agentur gründen“, beschlossen die Männer. Und weil sich die kriselnden Bierbrauer von Astra an Keuntje als ihren Retter und Werbe-Guru gebunden sahen und mit Minolta eine weitere Weltmarke neben Audi gewonnen werden konnte, „war der Einstieg mit diesem traumhaften Anfangspaket eine Art Selbstgänger“.
Philipp und Keuntje nannten sie sich und schossen als „Newcomer-Agentur des Jahres 2000“ schon kurz nach ihrem Start durch die Decke. Die Kampagne für die Kultmarke Astra, die bis heute ein gewisses Proll-Image liebevoll bedient, war einer der Treiber auf dem Weg in die Spitzenliga der Branche.
16 Jahre später beschäftigt die Kreativagentur 200 Mitarbeiter, hat 25 renommierte Kunden, und der Umsatz an Honoraren hat sich bei etwa 20 Millionen Euro eingependelt. Statt im ehemaligen Gemeindehaus auf St. Pauli residieren Philipp und Keuntje in einem schicken Backsteinbau am Eingang zur HafenCity. In der Eingangshalle stehen eine klassisch geschmückte Weihnachtstanne sowie Schaumstoff-Buchstaben als Sitzgelegenheiten. „Wir müssen uns ein bisschen mit den Fotos beeilen“, sagt Keuntje.
"Wir machen Verkaufsförderung"
„Es ist Mittagszeit. Die Mitarbeiter sitzen dann hier.“ Botschaft ist angekommen: Ein Fotoshooting mit dem Chef ist nicht so wichtig. „Wir machen Verkaufsförderung“, bringt er es auf den Punkt. Natürlich nähmen auch ihre Kreativen an den wichtigen Wettbewerben für Auszeichnungen teil. „Das gehört dazu, wenn man sich einen Namen und Karriere machen will“, sagt er. Aber man dürfe nicht vergessen, dass Werbungmachen nicht vergleichbar sei mit der moralischen Qualität beispielsweise des Arztberufs. Andererseits sei es eine ideale Spielwiese für neugierige Menschen. Also einen wie ihn.
Schon als Zwölfjähriger war er fasziniert von der Werbewelt. Schuld war Tante Eike. Die arbeitete in Frankfurt für die US-Agentur J. Walter Thompsen, heute JWT. Die Geschichten, die bei Familienbesuchen daheim in Bielefeld erzählt wurden, machten den Neffen so neugierig, dass er seine Tante in den Ferien besuchte und einfach mitging in die Agentur. „Ich war beeindruckt. Intelligente Menschen, die alle etwas konnten, schicke Büros hatten, tolle Autos fuhren. Das wollte ich auch machen.“ Mit 14 scribbelte er dort selbstbewusst ein Layout für Bacardi Rum.
Sein Vater war technischer Zeichner
Das nötige Rüstzeug hat er von einer perfekten Elternkombination mitbekommen. Der Vater war technischer Zeichner, malte in der Freizeit und nahm den Sohn mit in die Welt der Striche und Farben. Sie porträtierten sich gegenseitig, malten gemeinsam Landschaften. Die Mutter unterrichtete als Lehrerin Deutsch, hatte ein Auge auf die Sprach- und Schreibentwicklung des mittleren Sohnes. Und der schaffte die Schule mit links. Zunächst studierte er Literatur, Philosophie und Englisch in Bielefeld. Doch schnell war klar, dass das keine Fächerkombination war mit Aussicht auf eine wie auch immer geartete Karriere – und Bielefeld nicht der Nabel der Welt.
Berlin bot sich mit dem Studiengang Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation als Ausweg aus der Provinz an. Sieben Semester studierte Keuntje zielorientiert, parallel lebte er in der Hausbesetzerszene, wurde bei Razzien regelmäßig „zu erkennungsdienstlichen Maßnahmen an die Wand gestellt“. Keuntje grinst. „Berliner Humor.“ Das Geld für die Uni verdiente er sich als Musiker in Kneipen. „Tanz-Mucke, Free Jazz, unser Spektrum war weit.“ Gitarre- und Saxofonspielen hatte er sich selbst beigebracht. „Ich mag mir nicht gern von anderen etwas erklären lassen.“
Ehrgeiz packte ihn
Doch irgendwann war das Studium zu Ende, die anarchische Hausbesetzerszene als Lebensraum ausgereizt, eine neue Perspektive musste her. Der Ehrgeiz packte ihn. Keuntje fand Unterschlupf in einer Wohngemeinschaft und beschloss, es in der Werbung zu versuchen. Er schrieb drei Bewerbungen. Eine davon ging an Springer & Jacoby. Aus dem „Stern“ schnitt er Beispiele für schlechte Reklame aus, suchte Alternativen, klebte alles auf einen Bogen Papier und schickte die Unterlagen ab. Das kam gut an. Nach einem Dreistundengespräch mit Konstantin Jacoby hatte Hartwig Keuntje aus Bielefeld einen der begehrtesten Jobs der Branche. Er fing als Junior-Texter in Hamburg an.
Inzwischen gehört der Chef zu den „Alten“ in seiner Agentur. Die vielen Jungen findet er spannend. Belebend. Inspirierend. Beide Gründer haben sich in diesem Jahr aus dem operativen Geschäft weitestgehend zurückgezogen. „,Neu ist normal‘: Der Sinnspruch unserer Agentur ist genau so gemeint. Ich liebe es, Chancen zu ergreifen, etwas zu entwickeln.“ Kritiker nennen ihn ungeduldig. Anstrengend. „Ich habe hohe Ansprüche“, sagt er. Aber auch: „Der Mensch ist wichtig. Unsere Mitarbeiter verbringen mehr Zeit bei der Arbeit als zu Hause. Wir wollen, dass sie sich akzeptiert und wohlfühlen. Wir wollen kein Durchlauferhitzer sein.“
Ein neues Entwicklungsprogramm mit dem Namen PUK Gym ist der nächste Schritt. „Wer reinkommt, soll schlauer als vorher wieder rausgehen“, sagt Keuntje, der federführend ausbildet. Auch die Agenturstruktur wurde geändert. Das schnelle Projektgeschäft macht es nötig. Weg von festen Einheiten hin zu temporären Teams. „Die Welle verläuft chaotisch“, sagt Keuntje. „Man muss beweglich bleiben als Mensch – und als Organisation.“
In zwei Wochen wird er 56. „Kein Problem in der Werbung, wenn man in der Chefetage angekommen ist.“ Außerdem lockt in ferner Zukunft Plan B. „Malen und Musikmachen.“ Bis dahin schrammelt er mit der Jazzband Neue Fauna. Oder er hilft, wie diesen Sonntag, mit einem Gastauftritt bei einem Adventsbrunch aus. „Mein separater Kosmos“, sagt Keuntje. Und nebenbei Flow für die Seele.
DER ROTE FADEN. Als nächste folgt: Karin Klose