Hamburg. Kurz nach Kriegsende traf die Hansestadt 1946/47 der härteste Winter des 20. Jahrhunderts. Zeitzeugen erinnern sich.
Trostlos. Hoffnungslos. Bitterkalt. Als Hedwig Löwenstädt im März 1947 am Gymnasium Allee ihre Abi-Matheklausur schrieb, trug sie Handschuhe. Fünf Stunden lang. Die Gasheizung war kaputtgegangen. „Wegen des Gasgeruchs mussten trotz Minusgraden draußen alle Fenster aufgerissen werden.“
Hans-Günther Jantzen aus Rahlstedt holte damals jeden Abend vor dem Zubettgehen einen warmen Ziegelstein aus dem Backfach, wickelte diesen in Zeitungspapier ein und wärmte so etwas das Bett an. Waltraut Günther aus Altona wiederum erinnert sich: „Wir heizten mit allem, was brannte: Tannenzapfen, Holz, Zweige.“ Trotzdem glitzerten an der Tapete im Schlafzimmer Hunderte Eiskristalle. Es waren grausame Wochen, im Dezember 1946 sowie im Januar, Februar und März 1947. Als Mitte Dezember Frost einsetzte, glaubten viele Hamburger an einen verfrühten Wintergruß. Niemand ahnte, dass dem vom Krieg verwüsteten Hamburg einer der schlimmsten Winter seit Jahrzehnten bevorstand.
Wochenlang lagen die Temperaturen deutlich unter null Grad. Im Januar zeigte die Quecksilbersäule tagelang sogar minus 20 Grad Celsius an. Gut drei Monate sollte der ungewöhnlich strenge Winter mit seinen arktischen Temperaturen in Europa dauern. Erst Anfang März 1947 konnten die Menschen aufatmen, als die Frühlingssonne Temperaturen über zehn Grad Celsius brachte.
Der Krieg war zwar lange vorbei, ein Leben ohne Todesangst vor nächtlichem Bombardement zurückgekehrt. Aber noch lagen große Teile Hamburgs, das von den verheerenden Angriffen im Sommer 1943 getroffen worden war, in Schutt und Asche. In einigen Stadtteilen wie in Hammerbrook standen nur noch einige Häuserreste.
In anderen Vierteln wie Eimsbüttel herrschte eine gespenstische Situation: hier intakte Straßenzüge und dort, nur wenige Hundert Meter weiter, die totale Verwüstung. Die Menschen lebten vor der Ruinenlandschaft ihren beschwerlichen Alltag, aber sie lebten.
Ein Jahr zuvor war es zwar auch schon kalt gewesen. Allerdings waren seinerzeit die Vorratslager noch nicht völlig leer, und die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und Brennstoffen klappte leidlich. Aber nun, im Winter 1946/47 – später war von Hungerwinter die Rede –, kam alles zusammen: ein kriegszerstörtes Land, dessen Wirtschaft zum größten Teil noch daniederlag, eine anfällige Verkehrsinfrastruktur, die immer kurz vor dem Zusammenbruch stand, und fast leere Vorratslager für Nahrungsmittel und Brennmaterial.
Die Millionenstadt war von Bauern im Umland abhängig
Zudem waren viele Menschen durch die entbehrungsreichen Kriegsjahre körperlich geschwächt. Jahrelange Mangelernährung, Schlafentzug und die psychischen Belastungen hatten ihre Spuren hinterlassen. Krankheiten hatten in solch einer Situation ein leichtes Spiel.
Die kritische Gesamtlage traf die Hamburger besonders schwer. Da während des Krieges vor allem Wohngebäude zerstört worden waren, hatten rund eine Million Menschen ihr Dach über dem Kopf verloren. Mehr als jede zweite Wohnung lag in Trümmern, fand Arthur Dähn heraus. Der Mitarbeiter der Baubehörde hatte nach dem Krieg akribisch die an der Hamburger Bausubstanz entstandenen Schäden aufgelistet.
Trotz dieser immensen Zerstörungen war Hamburg für Flüchtlinge der wichtigste Zielort im Norden Deutschlands. Mehr als 70.000 Menschen suchten, oftmals nach wochenlangen entbehrungsreichen Märschen aus Mittelosteuropa, Zuflucht in der Stadt. Sie trafen auf Hunderttausende Hamburger, die ebenfalls ihr Hab und Gut verloren hatten, bei Verwandten untergekrochen waren oder auf engstem Raum in Nissenhütten oder anderen dürftigen Behelfsheimen hausten. Anfang 1946 gaben die Behörden die Zahl der „Lebensmittelbevölkerung“ mit 1,37 Millionen an und zogen die Reißleine: Der Zuzug von außen wurde gestoppt.
Ein entscheidendes Problem: Die größte und wichtigste Stadt in der britischen Besatzungszone verfügte nur über wenige landwirtschaftlich nutzbare Flächen und war daher von Lebensmittellieferungen aus dem Umland abhängig. Erschwerend kam hinzu, dass Züge, Busse und Straßenbahnen nur unregelmäßig verkehrten, aus Kostengründen über Monate häufig auch nur stundenweise. Die Züge waren überfüllt. Viele Mitfahrende saßen, so es denn die Außentemperaturen zuließen, auf dem Dach, festgebunden mit Seilen und Gurten. An eine kontinuierliche und flächendeckende Versorgung der Bevölkerung war nicht zu denken.
Obendrein bestand durch die großflächigen Zerstörungen während des Krieges – vor allem in der Innenstadt – bei der räumlichen Verteilung der Hamburger Bevölkerung eine „Unwucht“. Viele Menschen lebten in den weniger von Zerstörungen betroffenen Randgebieten. Jene, die Arbeit hatten oder die einfach nur in die Innenstadt wollten, mussten oft weite Strecken zu Fuß gehen – vorbei an Trümmerbergen durch kaum beleuchtete Straßen.
Türrahmen aus zerbombten Häusern wurden zu Feuerholz
So sehr sich die britische Besatzungsverwaltung und der von SPD-Bürgermeister Max Brauer geführte Senat auch bemühten, sie waren rasch überfordert. Henry Vaughan Berry, von 1946 bis 1949 britischer Zivilgouverneur in Hamburg, verglich Jahrzehnte später in einem Interview die Zustände während des Hungerwinters mit der napoleonischen Zeit.
Als eines der größten Probleme erwies sich der Mangel an Brennstoff. Bereits vor dem Wintereinbruch waren Gas und Elektrizität streng rationiert gewesen. Kohlen und Heizöl gab es nur für öffentliche Gebäude. Zum Kochen und zum Heizen der eigenen Wohnung mussten Torf, Reisig oder Holz aus den städtischen Parks reichen.
Als Mitte Dezember 1946 der Frost die Stadt in seinen Griff nahm – man bezeichnete diesen Winter später als weißen Tod –, war der Kohlevorrat rasch aufgebraucht. Das Problem: Der Brennstoff musste über mehrere Hundert Kilometer aus dem Ruhrgebiet herantransportiert werden. Eine Wegstrecke, die in den strengen Wintermonaten zeitweise nicht zu überwinden war.
Wie Michael Ahrens in seinem Buch „Die Briten in Hamburg. Besatzerleben 1945–1958“ schreibt, gelang es schon im Dezember 1946 nicht mehr, für ausreichend Nachschub zu sorgen. „Das Hamburg zugeteilte Kohlenkontingent für die Zeit vom 25. November bis 29. Dezember 1946 betrug 204.600 Tonnen. Von dieser Quote trafen mehr als 70.000 Tonnen weniger ein, was daran lag, dass die Kohlentransporte aus dem Ruhrgebiet durch Schnee und Eis erheblich beeinträchtigt wurden.“
Die Folgen in der Hansestadt waren dramatisch. Im ersten Monat des Jahres 1947 wurden mangels Kohle 640 Betriebe stillgelegt. Das bedeutete in einer Stadt mit ohnehin schon hoher Arbeitslosigkeit weitere 27.000 Arbeiter ohne Job und Einkommen. Anfang Februar seien von den 7000 Lokomotiven der Reichsbahn lediglich 3000 einsatzfähig gewesen. In den Zeitungen wurden allein im Januar 1947 mindestens 36 Todesopfer durch Erfrieren gemeldet. Tausende hatten nichts zu essen, keine Kohle, keinen Strom.
Die Menschen warteten sehnsüchtig auf die Züge, die ihnen das „schwarze Gold“ von der Ruhr bringen sollten. Vielen blieb nichts anderes übrig, als Kohlen zu stehlen, wenn sie nicht erfrieren wollten. „Die Zahl der inhaftierten Kohlediebe war von 1000 im Dezember 1946 auf 6000 im Januar und 17.000 im Februar sprunghaft angestiegen“, schreibt Ahrens. Allein am 13. Februar 1947 wurden demnach 715 Kohlendiebe festgenommen. Wenn Menschen heute noch vom „Kohlenklau“ sprechen, beziehen sich ihre Erinnerungen fast immer auf diese Monate.
„Auch meine Mutter ging abends zum Kohlenklauen“
Ganze Familien machten sich damals auf, um die begehrten Kohlen irgendwie zu organisieren – und nicht selten ging es dabei ums nackte Überleben. Sobald die Kohlenzüge irgendwo stoppten, sprangen die Menschen – oft waren es Kinder und Jugendliche – auf die Waggons, um Kohlen entweder einzusacken oder zu Wartenden hinunterzuwerfen, die sie dann einsammelten. Gelegentlich manipulierten Findige auch die Signalanlagen und stoppten die Züge auf diese Weise.
„Auch meine Mutter ging abends zum Kohlenklauen“, erinnert sich Abendblatt-Leserin Ingrid Genz, die damals in einem Keller hauste. „Einmal war sie in einen Waggon geklettert, als der Zug unvermittelt wieder losfuhr. Nach langer Fahrt konnte sie weit draußen vor den Toren Hamburgs schließlich absteigen, und erst am nächsten Morgen tauchte sie wieder bei uns Kindern auf.“
Reinhard Reuss berichtet in seinen im Jahr 2010 erschienenen Kindheitserinnerungen anschaulich, wie er als Junge – er lebte in der Isestraße – „mit stillschweigender Zustimmung der Eltern“ während des Hungerwinters auf der Suche nach Brennmaterial unterwegs war. Die Vorratskeller in den Trümmerlandschaften seien die erste Adresse und rasch „abgegrast“ gewesen.
Ganz Mutige lauerten den Kohletransporten der Reichsbahn dort auf, wo sie langsam fahren oder gar halten mussten. „So zum Beispiel auf der sogenannten Verbindungsbahn zwischen dem Hamburger Hauptbahnhof und dem Bahnhof Altona – insbesondere auf dem Streckenabschnitt Lombardsbrücke und Sternbrücke.“
Dabei mussten sie auf bewaffnete englische Besatzungssoldaten achten, die die Züge bewachen sollten. Allerdings, so berichtet Ahrens, nahmen die es mit ihrem Wachdienst oft nicht so genau. Sie wussten ja, wie schrecklich die Situation der Hamburgerinnen und Hamburger war. Später wurden die Kohlezüge überhaupt nicht mehr von den Besatzungstruppen bewacht.
Reuss schildert zudem eine dritte Möglichkeit, an Kohle heranzukommen: „Schuten auf dem Isebekkanal heimzusuchen, die häufig Anthrazitkohle bis oben hin gebunkert hatten und den Kanal bis zum Beginn des starken Frostes befuhren.“ Diese Schuten „wurden bei Meincke & Hertz angelandet und dümpelten bis zur Entladung für die Engländer und Krankenhäuser leicht zugänglich auf dem Kanal herum“.
Zwar gab es in der Regel „eine deutsche Schutenwache“, die aber bestochen werden konnte, wie Reuss in seinen Erinnerungen schreibt. „Der Wachhabende verschwand in einer Art kleinen Kajüte im Vorschiff, um die Tauschware zu verstauen und ‚um mal nach dem Ofen zu schauen‘. Jetzt war Eile geboten: Wir warfen richtige Anthrazitblöcke ans Ufer und stopften Taschen und Beutel mit kleineren Stücken voll.“
„Nach dem Schulunterricht tauchten wir in die Trümmerlandschaft und suchten Holz"
Der Diebstahl von Kohle dürfte damals vielen Menschen das Leben gerettet haben. Wie groß die Not war, zeigte sich daran, dass viele Züge bei ihrer Ankunft in Hamburg nur noch die Hälfte ihrer ursprünglichen Ladung mitbrachten und dass diese Kohlen dann anderen Bedürftigen fehlten.
Doch nicht nur Kohlezüge waren das Ziel der Hamburger, wenn es darum ging, etwas Brennbares zu finden. „Nach dem Schulunterricht tauchten wir in die Trümmerlandschaft der Hansa- und Werderstraße am Grindelberg ein und suchten nach Holz“, schildert Reinhard Reuss in seinen Kindheitserinnerungen.
Teilweise ragten die Trümmerteile der ehemaligen Wohnhäuser bis in die Höhe des ersten oder zweiten Stockwerks. „Unsere Suche nach Holz und möglicherweise Koks aus verschütteten Heizungskellern war aus zweierlei Gründen nicht ungefährlich: Die Trümmer konnten jederzeit einstürzen, und große Gefahr ging von eventuell noch vorhandenen Blindgängern aus“, berichtet Reuss.
Zudem war es harte Arbeit, in den Trümmern an das begehrte Holz zu kommen. „Teilweise mussten angekohlte Türrahmen aus dem Mauerwerk gebrochen werden, auch waren lange, verkohlte Holzbalken, auf denen ursprünglich die Fußböden der einzelnen Etagen ruhten, eine heiß begehrte Beute.“
Aus Kellern wurde so viel herausgetragen, wie man als Junge habe schleppen können, schrieb Reuss weiter. Blieb noch etwas übrig, sei der Zugang unzugänglich gemacht worden, um den Rest ein anderes Mal zu holen. „So filzten wir den Grindel, die ‚Lyra‘, den Lehmweg/Hoheluftchaussee, den Klinker und die Schlankreye auf der rechten, der U-Bahn zugewandten Seite.“ Einer anderen Art der „illegalen Holzbeschaffung“ habe der Innocentiapark gedient. „Hier traten vor allen Dingen die Erwachsenen in Aktion“, berichtet Reuss. „Mit Axt und Säge trieben sie einen Raubbau, der seinesgleichen suchte. Die Holzbeschaffung vollzog sich meist in der Dämmerung, versteht sich!“
Warmer Aufenthaltsort entschied über Leben und Tod
Auch Horst Moldenhauer, der die Nachkriegszeit in Niendorf erlebte, berichtet von nächtlichen Raubzügen, denen auch ein Parkstreifen zwischen Alwin-Lippert-Weg und Sootbörn zum Opfer fiel. „Die Promenade ist über Nacht abgeholzt worden“, erzählt er in einem Dokumentarfilm. „Da waren Bäume, die konnten Sie mit vier Mann kaum umfassen, so alte Buchen. Die verschwanden auch.“
Moldenhauer ist überzeugt davon, dass auch das Niendorfer Gehege abgeholzt worden wäre, hätten die Engländer nicht aufgepasst. „Die lagen auf den Wiesen in einem Zeltlager. Die haben mit der Maschinenpistole in die Bäume reingeschossen und haben die Leute vertrieben. Sonst wäre das Gehege genauso ein Raub der Axt und der Kettensäge geworden.“
Marianne Nordwald erinnert sich, dass sie aus einem Depot Filzstiefel geklaut hatte. „Zusammen mit meinem Vater habe ich nachts hölzerne Zäune an einer Bahnlinie abgesägt. Die Moral war vorübergehend ,in der Kiste‘, wie wir damals sagten. Ich habe nachts in einer Firma Speiseöl abgezweigt, auf Flaschen gezogen und auf dem Schwarzmarkt angeboten. Wer nichts zu bieten hatte, bekam auch nichts. Meine Mutter hat in der Zeit Strümpfe gestopft, um damit etwa Geld zu verdienen.“
Angesichts der Minusgrade war ein halbwegs warmer Aufenthaltsort für die Menschen eine Frage, die über Leben und Tod entschied. „Wir wohnten damals bei einer Tante in der Alsterdorfer Straße in einem Zimmer“, erzählt Helga Springer. Sie war während des Hungerwinters 15 Jahre alt. Der einzig warme Ort war die Küche, in der ein Kohleherd stand. Im Schlafzimmer, in dem ihre Eltern und sie übernachteten, habe man an der Tapete die Eiskristalle erkennen können. „Wir hatten in dem Zimmer unter null Grad.“
Waltraut Günther erinnert sich, dass Jungs aus ihrer Nachbarschaft in Altona sich immer mit „einem kleinen Marmeladeneimer“ auf den Weg machten, wenn sie Kohle besorgten. Der Inhalt reichte dann, um es einen Abend etwas warm zu haben. „Die Wohnung durchheizen konnte man nicht.“ Auch Waltraut Günther, ihre Oma und ihre Mutter saßen an den bitterkalten Abenden um den Ofen in der Küche herum. „Wenn meine Oma gewaschen hatte, konnte sie die Schürzen am nächsten Morgen wie ein Brett von der Leine nehmen.“
Zur Kälte kam der bohrende Hunger
Abendblatt-Leserin Marion Wobbermin war im Winter 1946 Schülerin in der Schule Taubenstraße auf St. Pauli. Als die Heizung nicht funktionierte, brachte einer der Väter einen alten Kanonenofen in die Klasse, dessen Rohr durch eine zerbrochene Scheibe geführt werden musste. „Kohle wurden über Väter organisiert, die ,Beziehungen‘ zu den Schleppern im Hafen hatten. Lehrer und Schüler aus anderen Klassen kamen zu uns, um sich aufzuwärmen.“ Auch Waltraut Günther erinnert sich daran, dass die Schulen in den kalten Monaten kaum beheizt waren. „Die Lehrerin freute sich, wenn wir ein Brikett oder ein Stück Holz zum Heizen mitbrachten.“
Hans-Günther Jantzen meint heute noch, „diese nicht enden wollende Eiseskälte zu spüren“, wenn er an den Winter 1946/47 denkt. Doch selbst daheim war die Lage schwierig, wenn der Wind heftig wehte. „Ich wusste, dass sich der Ostwind vor dem hohen Dach staute und den Qualm unseres kleinen provisorischen Küchenherdes unbarmherzig in die Wohnung drückte.“ In der Küche, dem einzigen beheizten Raum, war es dann nicht nur scheußlich kalt. „Es quälte uns auch noch der beißende Rauchgestank.“
Zur Kälte kam der bohrende Hunger, der den Menschen zusetzte. Und Ende Dezember 1946 wurde nach einer Absprache zwischen Zivilgouverneur Berry und Bürgermeister Max Brauer den sogenannten „Normalverbrauchern“ ihre Tagesration an Brot und Nährmitteln noch einmal um ein Viertel gestrichen.
Über Monate bekamen Erwachsene im Durchschnitt weniger als 1000 Kalorien am Tag. Heute sind 2000 bis 3000 der Durchschnitt. Oft waren die auf den Marken ausgewiesenen Lebensmittel gar nicht erhältlich. Stundenlanges Anstehen gehörte zum Alltag – und wenn man dann endlich drankam, war oft kaum noch etwas übrig. „Einmal mussten wir 24 Stunden für Lebensmittel anstehen, ein trauriger Rekord“, erzählt Hedwig Löwenstädt. „Da wechselten sich die Familienmitglieder und eine Nachbarin alle paar Stunden ab, und am Schluss gab es dann genau ein Brot.“
Die Tagesration für sogenannte Normalverbraucher hatte auf einem Teller Platz. Es waren: 350 Gramm klitschiges Brot, 375 Gramm Kartoffeln mit Schale, 16,6 Gramm Fisch, zwei Gramm Käse, 50 Gramm Nährmittel aus US-Viehfutter-Beständen, 20 Gramm Fleisch, 16,6 Gramm Zucker und 6,6 Gramm Fett.
Waltraut Günther erinnert sich, dass das Anstehen nach Lebensmitteln ihre Aufgabe war. Da weder ihre Mutter noch ihre Großmutter rauchten, konnte sie die Marken für Zigaretten gegen andere Lebensmittel eintauschen. „Ich bin oft zum Nachbarn gegangen und habe für Zigarettenmarken solche für Margarine bekommen.“
Abendblatt-Leserin Kläre Schmorleiz erzählt: „Ich kann bis heute kein Brot wegwerfen und betrachte bei Waldspaziergängen immer ganz neidisch den mit Brennholz reich übersäten Boden.“ Fast zehn Jahre ihrer Kindheit habe sie gehungert und gefroren. Und Helga Springer erzählt davon, wie sie ihre Brottasche aufmachte und darin fast immer eine Scheibe Streckrübe fand. „Ich ging auch deshalb gern zur Schule, weil es dort die Schwedenspeisung gab.“ Was genau das war, daran kann sie sich allerdings nicht mehr erinnern. „Ich glaube, es war eine Art Kekssuppe mit Milch und Keksen, die uns von Schweden gespendet wurde.“
Wer in der Schule essen wollte, der musste einen eigenen Henkeltopf mitbringen. „Und nach Schulschluss kontrollierten die Lehrer die Pötte, damit man nichts mit nach Hause schmuggeln konnte.“ Hunger sei in jener Zeit ihr ständiger Begleiter gewesen, berichtet Helga Springer. „Wir hatten zu niemandem auf dem Land eine Beziehung, der uns mal was abgeben konnte.“ Marianne Nordwald erinnert sich an den Brotersatz. Das war ein Mais-Brot, „das so hart war, dass es ,Ziegel‘ genannt wurde“.
Selbst das wenige wurde im Verlauf des Winters weniger. „Vor jeder neuen Zuteilungsperiode mussten wir die traurige Nachricht lesen, dass die Lebensmittelrationen wieder einmal gekürzt worden waren“, sagt Hans-Günther Jantzen. „Zuletzt waren es wohl knapp 900 Kalorien pro Tag.“ Manchmal stellte die Mutter wenige Scheibchen Wurst auf einer Untertasse zum dürftigen Abendbrot und sagte: „Die essen wir morgen. Die sind heute nur zum Angucken.“
Am 28. Dezember 1946 gab Bürgermeister Max Brauer über den Rundfunk ein Notprogramm bekannt. Danach wurden nur noch für das Überleben der Stadt unverzichtbare Betriebe mit Strom versorgt, Kinos und Theater hingegen geschlossen. Für private Haushalte stand Elektrizität am Tag nur noch zwei Stunden zur Verfügung. Läden durften nur von zehn bis 15 Uhr geöffnet werden, und die Weihnachtsferien von Schulen und Universität wurden auf unbefristete Zeit verlängert.
Doch der Winter ließ nicht locker. Am 7. Januar setzte eine zweite Kältewelle ein, die Zeitungen meldeten die ersten Kältetoten. Mitte Januar schien sich die Lage etwas zu entspannen. Trotz anhaltender Minustemperaturen wurden der Schulbetrieb wieder aufgenommen und Kinos sowie Theater vorübergehend geöffnet – aber ungeheizt. Doch schon wenig später kehrte der Winter mit unerbittlicher Härte zurück.
Zeitzeugen berichten, Schnee und Kälte hätten sich wie ein Leichentuch über die zerstörte, waidwunde Stadt gelegt. Auf die dritte Kältewelle Ende Januar folgte einen Monat später die vierte. Am 15. Februar 1947 richtete Max Brauer über den Rundfunk einen verzweifelten Appell an den verantwortlichen britischen General Brian H. Robertson, eine Hilfsaktion für Hamburg zu erlassen. „Die Krise (...) hat ein unerträgliches Ausmaß erreicht“, sagte Brauer. „Gas- und Energieversorgung sind zusammengebrochen. Die Krankenhäuser können nicht mehr beheizt werden, die Haushaltungen sind ohne Licht, Heizungen und Kochmöglichkeiten.“ Doch die zugesagte Hilfe lief nur schleppend an, zumal die Briten selbst mit der Kälte und Versorgungsengpässen zu kämpfen hatten.
Forscher schätzen die Zahl der Toten auf mehr als 1000
In der Nacht auf den 25. Februar sank die Temperatur auf minus 25 Grad und erreichte damit den tiefsten Wert des Winters. Neben der Kälte blockierten dieses Mal Schneeverwehungen in Niedersachsen die Kohlezüge – und in Hamburg kam der Alltag erneut zum Erliegen. In den ersten Märztagen stand es Spitz auf Knopf: Die Hamburgischen Electricitäts-Werke (HEW) hatten gerade noch so viel Kohle, um die eigenen Anlagen vor dem Einfrieren und der Zerstörung zu bewahren.
Mithilfe der Engländer herbeigeorderte Kohle-Eilzüge retteten die Stadt. Als Folge dieser Aktion entstanden später übrigens die „Ruhrfestspiele“ – ein kultureller Dank („Kunst für Kohle“) Hamburgs an die Bergleute, die etliche Sonderschichten gefahren hatten. Kurze Zeit später setzte Tauwetter ein.
Wie viele Menschen in diesem Todeswinter infolge von Hunger und Kälte in Hamburg umkamen, ist bis heute unklar. Offiziell heißt es, in Hamburg seien während des Hungerwinters 85 Menschen erfroren und 494 an Lungenentzündung gestorben. Seriöse Wissenschaftler gehen von mehr als 1000 Toten aus. Vor allem ältere Menschen starben an „Herzversagen“, „Entkräftung“ oder „Grippe“. Wer konnte seinerzeit schon definitiv feststellen, welche Rolle der eisige Winter dabei spielte?
Dauerhafte Temperaturen von minus 20 Grad über Wochen sind für viele Menschen, die heute im wohlhabenden Hamburg leben, unangenehm, für manche auch „unerträglich“. Wer im Jahr 2017 in seiner gut gedämmten, kräftig beheizten Wohnung sitzt, kann sich nur schwer vorstellen, dass die Hamburger vor 70 Jahren in halb zerstörten, zugigen Zimmern, Kellern oder Schuppen hausten, durch deren Ritzen und Löcher ein eisiger Wind pfiff. Auch wenn es „keine schönen Zeiten“ gewesen seien, wie Helga Springer sagt, so herrschte doch Frieden. „Ja, ich fror und hatte Hunger. Aber ich war unendlich froh darüber, dass keine Bomben mehr fielen.“