Hamburg. Stiefvater muss für fast vier Jahre ins Gefängnis. Staatsanwalt hatte im Prozess um den verstorbenen Säugling weniger gefordert.

Als der Vorsitzende Richter Georg Halbach am Donnerstagmorgen das Urteil verkündet, geht ein Raunen durch die Menge, die Miene des Angeklagten Daniel C. verfinstert sich. Denn der Schuldspruch ist vor allem eins: eine große Überraschung. Im Prozess gegen den Stiefvater des lebensbedrohlich unterernährten und im März 2009 verstorbenen Säuglings Lara Mia hat das Landgericht eine Freiheitsstrafe von drei Jahren und acht Monaten verhängt – die Große Strafkammer 27 hat damit das von der Staatsanwaltschaft beantragte Strafmaß von 20 Monaten mehr als verdoppelt.

Die Tat liegt bereits sieben Jahre zurück, hat aber nichts von ihrem Schrecken verloren. Unter den Augen des Jugendamtes siechte in Wilhelmsburg ein Kind dahin, es magerte ab, bis die Rippen spitz hervorstanden. Jeder Laie konnte das sehen. Und doch – obwohl das Jugendamt seit der Geburt von Lara Mia eine Betreuung für die junge Familie mit zunächst zehn Stunden pro Woche installiert hatte – starb das neun Monate alte Mädchen. Am 11. März 2009 fanden Rettungssanitäter das Baby, blau angelaufen und tot, in seinem Kinderbettchen, inmitten von Müll und verdreckten Windeln.

Am Ende wog Lara Mia nur noch 4,8 Kilogramm

Zuvor hatten die Mutter Jessica R. und Stiefvater Daniel C. dem Kind über Monate zu wenig zu Essen gegeben, „bestenfalls die Hälfte der benötigten Kalorien“, sagt Halbach. Wie es dazu kommen konnte, konnte in dem Verfahren nicht aufgeklärt werden, da der Angeklagte von seinem Schweigerecht Gebrauch gemacht hatte. Einen Anhaltspunkt dafür liefert indes eine lapidare Aussage, die Daniel C. kurz nach seiner Festnahme bei der Polizei gemacht hatte: Die Kleine sei „krüsch“ gewesen, was Essen anging, sie habe eben nicht alles zu sich genommen. „Haben Sie sich denn viel um Lara Mia gekümmert?“, wollten die Ermittler damals auch noch wissen. Antwort Daniel C. „ Nicht wirklich, sonst wäre sie ja noch am Leben.“ Fatalerweise gingen die Eltern mit dem immer dünneren Baby nicht zum Arzt – wohl aus Angst, dass ihnen das Jugendamt das Kind entziehen könnte.

Am Ende wog Lara Mia nur noch 4,8 Kilogramm, etwa die Hälfte dessen, was sie wiegen sollte. Versagt hatten aber nicht nur die Eltern, sondern auch das Jugendamt. So kontrollierte die Familienhilfe beispielsweise nicht, ob die Mutter die Vorsorgeuntersuchungen beim Arzt wahrgenommen hatte. Lara Mias Tante hatte das Jugendamt zudem mehrfach über die Verschlechterung des Gesundheitszustandes von Lara Mia informiert. Eine Kindeswohlgefährdung sah es indes nicht. Und: Noch zwei Wochen vor seinem Tod hatte Familienbetreuerin Marianne K. dem Mädchen allen Ernstes eine „gute Gesundheit“ attestiert.

Daniel C. im Gerichtssaal
Daniel C. im Gerichtssaal © dpa | dpa

2011 war Jessica R. zu drei Jahren Jugendstrafe verurteilt worden. An dem Prozess konnte Daniel C. nicht teilnehmen, weil er wegen einer psychischen Erkrankung verhandlungsunfähig war. Danach verbummelte die Justiz den Fall, die zuständige Kammer ließ das Verfahren mehr als drei Jahre liegen. „Wegen rechtswidriger Verfahrensverzögerung gelten deshalb sechs Monate der Strafe als bereits verbüßt“, sagte Halbach. Die Höhe der Strafe hängt vor allem damit zusammen, dass das Gericht von einem bedingten Tötungsvorsatz des Angeklagten ausgeht. „ Sicherlich war der Tod des Kindes unerwünscht“, sagt Halbach, aber darauf komme es bei der Annahme eines Eventualvorsatzes auch nicht an.

Stiefvater habe Lara Mias Tod "billigend" in Kauf genommen

Spätestens am 6. Dezember, so Halbach, habe der Angeklagte erkannt, dass er das Kind durch die auch von ihm verschuldete mangelhafte Ernährung erheblich gefährdete, spätestens am 21. Februar sei ihm klar gewesen, dass das Baby in Lebensgefahr schwebte. Indem er nichts tat, um die Gefahr abzuwenden, habe er den Tod des Kindes billigend in Kauf genommen. „Der Angeklagte wusste, dass Lara Mia sterben konnte und fand sich mit dieser Möglichkeit ab.“ Dabei hatten Dritte ihn mehrfach auf die Gefahr hingewiesen, hatten Daniel C. gewarnt, wieder und wieder. Lara Mias Tante fällt die Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Kindes auf – mehrfach informiert sie das Jugendamt darüber.

Kuscheltiere liegen nach dem Tod von Lara Mia in einem Hauseingang in Wilhelmsburg
Kuscheltiere liegen nach dem Tod von Lara Mia in einem Hauseingang in Wilhelmsburg © Jens Ressing

Dieses sieht jedoch keine Kindeswohlgefährdung. Im Februar traf der Großvater von Lara Mia Daniel C. zufällig im Supermarkt. Er legte das Kind auf eine Gemüsewaage. Sie zeigte ein Gewicht von etwa fünf Kilogramm an – viel zu wenig für ein Baby dieses Alters und dieser Größe. Wenig später fiel auch einer Nachbarin der schockierende Zustand des Kindes auf. Statt die Behörden zu alarmieren, beließ sie es bei einer Ansprache des Angeklagten. Doch Daniel C., der als Stiefvater und damit als Garant für die körperliche Versertheit des Babys einstand, tat nichts: Aus Angst vor einem Kindesentzug durch das Jugendamt und die dann unvermeidliche Trennung von der Kindsmutter sei der Angeklagte, der wenig durchsetzungsstark sei und unter einer „Ich-Schwäche“ leide, nicht zum Arzt gegangen, so Halbach.

Auch auf die Einschätzung der Familienbetreuerin vom Rauhen Haus zwei Wochen vor dem Tod des Kindes, wonach das Baby einen gesunden Eindruck machte, habe sich Daniel C. keineswegs verlassen dürfen. Zumal er im Gegensatz zu der Familienbetreuerin, die Kleine auch ohne Bekleidung häufig gesehen habe – und damit das ganze Ausmaß der Mangelernährung praktisch jeden Tag vor Augen hatte. Das Gericht verurteilte Daniel C. nur deshalb wegen eines versuchten und nicht wegen eines vollendeten Tötungsdelikts, weil trotz dreier Gutachten nicht mit endgültiger Sicherheit geklärt werden konnte, ob Lara Mia verhungert ist.

Verteidigung will das Urteil anfechten

Viel deutet zwar darauf hin, doch mit einer kleinen Restwahrscheinlichkeit könnte die Todesursache auch plötzlicher Kindstod gewesen sein, so Halbach. Zudem hat das Gericht Daniel C. wegen gefährlicher Körperverletzung durch Unterlassen und der Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht schuldig gesprochen. Strafmildernd berücksichtigte die Strafkammer, dass die Tat schon länger zurückliegt, dass Daniel C. zum damaligen Zeitpunkt nicht vorbestraft war und er der „fehlerhaften Einschätzung durch das staatliche Betreuungssystem“ unterlag.

Strafschärfend fielen hingegen die „besondere Hilfsbedürftigkeit des Babys“ und die „ Deliktsverwirklichung über einen längeren Zeitraum“ ins Gewicht. Eine Jugendstrafe sei hier nicht in Frage gekommen, da sich die Tathandlungen schwerpunktmäßig in der Zeit nach dem 21. Geburtstag des Angeklagten abgespielt hätten, so Halbach. Damit unterliege Daniel C. dem allgemeinen Strafrecht.

Nach der Urteilsverkündung hastet Daniel C. aus dem Gerichtssaal, sein Verteidiger Ulf-Diehl Dreßler tritt vor die Kameras. „Wir werden das Urteil anfechten“, sagt Dreßler. Aus seiner Sicht habe das Gericht die Tat rechtlich falsch eingeordnet. Sein Mandant habe nicht mit bedingtem Tötungsvorsatz, sondern „bewusst fahrlässig“ gehandelt. Der Grund für Lara Mias Tod liege bei dem Versagen der Familienhelferin, die dem Angeklagten gesagt habe, es reiche aus zum Arzt zu gehen, wenn sie aus ihrem Urlaub zurück sei.

Damit sei bewiesen, dass der Angeklagte „den Todeseintritt nicht billigend in Kauf genommen“ habe. Schließlich müsse der „Lehrling nicht schlauer sein als der Lehrer“, so Dreßler. Bereits 2010, nach dem ersten Verfahren gegen Jessica R. und Daniel C., hatte der Bundesgerichtshof den Fall zur erneuten Verhandlung nach Hamburg zurückverwiesen. Gut möglich also, dass der tragische Fall der kleinen Lara Mia die Hamburger Gerichte noch ein viertes Mal beschäftigen wird.